Buch-Tipp: "Noir für alle"

Ohne Zweifel sind es nicht zuletzt die spezifischen visuellen Qualitäten, denen der Film noir seine ungebrochene Faszinationskraft verdankt«, heißt es in einem der einleitenden Texte dieses schwergewichtigen Bandes, der es mit seinem Fast-A4-Format und den beinahe 700 Seiten auf ein Gewicht von 3,5 Kilogramm bringt – ein Coffeetable Book, gut geeignet, um unter dem Weihnachtsbaum einen entsprechenden Platz zu beanspruchen.

Aus dem Repertoireangebot der Fernsehanstalten mittlerweile fast ganz verschwunden (wie so viele andere Schwarz-Weiß-Filme), sind auch in Deutschland viele Noir-Klassiker inzwischen auf DVD zu finden, vom Angebot in den USA, Großbritannien und Frankreich ganz zu schweigen. Kommerziell verfügt das Genre nach wie vor über eine Strahlkraft, ein deutscher Anbieter hat sogar eine eigene Reihe im Angebot.

Während im angelsächsischen Bereich kontinuierlich neue Untersuchungen zu dieser Stilrichtung publiziert werden, gab es in Deutschland immerhin mehrere großformatige Bild- und Textbände und zuletzt den Band in Reclams Genrereihe. »Film Noir. 100 All-Time Favorites« beginnt einmal mehr mit einer Übersetzung von Paul Schraders klassischem Text »Notizen zum Film Noir« von 1972. Es folgen zwei Originaltexte. »Out of Focus. Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen in Orson Welles’ The Lady from Shanghai von Jürgen Müller und Jörn Hetebrügge erläutert anhand einer Stilanalyse auch generelle Merkmale der Gattung, während Douglas Keesey »Eine Einführung in den Neo-Noir« gibt, den er als »selbstreferentielles Genre« charakterisiert. Den Hauptteil des Bandes, der am Ende durch ein Register erschlossen wird, macht sodann die Vorstellung der 100 ausgewählten Filme aus. Jeder wird auf vier bis acht Seiten mit Filmplakat, Credits, einem Autorentext sowie zahlreichen, auch doppelseitigen Fotos vorgestellt. Dazu kommen oft zeitgenössische Zitate oder Filmdialoge. Ein zusätzlicher Kasten ist einer Person oder einem Thema gewidmet. (zur Veranschaulichung die Foto-Reihe auf der Webseite des Verlags)

»100 All-Time Favorites« ist vom Konzept her offener als viele Bücher dieser Art, birgt aber auch den Makel des kleinsten gemeinsamen Nenners, minimiert die Möglichkeit, verborgene Perlen zu entdecken. Wirklich unbekannt von den hundert Filmen dürfte wohl nur The Thief (Russell Rouse, 1952) sein, der sich seinen Platz in der Filmgeschichte dadurch gesichert hat, dass er ganz ohne Dialoge auskommt. Die in einem der einleitenden Texte erwähnten »hybriden Genres«, also Noir-Melos, -Musicals, -Western (Pursued, Blood on the Moon) und -Science-Fiction-Filme (Invasion of the Body Snatchers) wurden hier nicht berücksichtigt, sieht man von den Neo-Noirs The Dark Knight und Black Swan ab. Auch Filme außerhalb des angelsächsischen und gelegentlich französischen Sprachbereichs kommen praktisch nicht vor.

Die chronologisch geordnete Auswahl beginnt mit Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), macht zeitlich große Sprünge, hat ihren Schwerpunkt zwischen 1944 und 1958 und endet schließlich mit Nicolas Winding Refns Drive (2011). 27 Autoren, darunter viele, die auch schon an den von Mitherausgeber Jürgen Müller verantworteten Dekaden-Bänden (zuletzt »Die Filme der 2000er Jahre«) des Verlags beteiligt waren, steuern die Texte zu den einzelnen Filmen bei. Neben 22 deutschen Autoren, vielfach aus dem universitären Bereich, seltener aus dem der Filmkritik, sind auch einige US-amerikanische beteiligt, so die ausgewiesenen Fachleute James Ursini und Alain Silver, Verfasser mehrerer Noir-Bücher.

Die Texte im Taschen-Band sind zugewandt und leserlich verfasst, analytisch, beschreibend, setzen sich indes eher selten mit früheren Texten zu den Filmen auseinander. Die Kästchen sind relativ regisseurlastig, vernachlässigen wie die Haupttexte zumeist die Autoren der literarischen Vorlagen, aber immerhin werden gelegentlich auch Komponisten, Drehbuchautoren und Schauspieler gewürdigt.

Eine Übersicht mit 1000 Noir-Filmen nennt nur Titel und Jahr, da muss der Leser selbst findig sein – oder aber er schafft sich gleich das wohl immer noch beste Noir-Nachschlagewerk an: »Film Noir. The Encyclopedia«, herausgegeben von Silver, Ward, Ursini und Porfirio.

Paul Duncan/Jürgen Müller (Hrsg.):
»Film Noir. 100 All-Time Favorites«
Taschen Verlag, Köln 2014.
688 S. 
39,99 €

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