Totgesagte leben länger

Videotheken vs. Gegenwart
"Video-City" (Frankfurt a.M.)

Mit Slogans wie »Widerliche Filme für widerliche Leute« warben die ers­ten Videotheken für ihre Dienste. Heute bedrohen Streamingangebote und Video on Demand das einst einträgliche Geschäft, doch einige Unbeugsame widersetzen sich...

Das Wunder Video: Ein ganzer Spielfilm, Millionen von Bildzeilen, Milliarden von farbigen Bildpunkten auf dem Magnetband einer einzigen, kaum taschenbuchgroßen Kassette. Für Ihr ganz privates Video-Kino in ihrem Wohnzimmer.« Es sind Werbetexte wie dieser, die die Herzen von Filmsammlern Anfang der 1980er Jahre höherschlagen lassen. Endlich ist es möglich, einen Film in Gesamtlänge auf einer praktischen Videokassette zu bannen und ihn daheim auf dem Fernseher zu sehen. Wollte man zuvor einen Film besitzen, war man auf die Super-8-Kurzfassung seines Lieblingsfilms angewiesen. Populäre Blockbuster wie Alien, Der Exorzist oder Krieg der Sterne waren im Fotofachhandel auf 120-Meter-Spulen erhältlich und kosteten trotz der geringen Laufzeit von etwa nur 20 Minuten um die 150 DM. Lediglich die Wahl des wohl zukunftssicheren Kassettenformats – Betamax, Video 2000 oder VHS – muss nun getroffen werden. Schließlich setzt sich das erstmals 1976 in Japan eingeführte »Video Home System«, kurz VHS, von JVC als ­Standard für analoge Video-Magnetbandaufzeichnungen durch. Doch bespielte Videokassetten sind mit einem Preis von durchschnittlich 300 DM anfangs unerschwinglich für Privatkunden. Denn sie werden vornehmlich für die überall wie Pilze aus dem Boden sprießenden Videotheken produziert und man erwirbt beim Kauf der Kassette auch das Verleihrecht mit. Im Jahr 1980 gibt es etwa 1 000 Videotheken in der Bundesrepublik.

Die großen Filmverleihfirmen stehen dem neuen Bildträger aus – wie wir heute wissen, berechtigter – Angst vor Raubkopien in den ersten Jahren des Videobooms noch sehr skeptisch gegenüber. Deshalb wird der neue Video­markt anfangs von vielen kleinen Anbietern mit jeder Menge Billigfilmware dominiert. Es ist also nicht James Bond, der die Kassen der Videotheken in den Anfangsjahren klingeln lässt, sondern billige, harte Horrorkost, derbe Actiongülle und vor allem Pornofilme sind das Alternativprogramm zum damals noch sehr übersichtlichen und beschaulichen Fernsehprogramm. Erst 1982 veröffentlichen auch die großen amerikanischen Filmverleiher ihre A-Filme auf Videokassette. 1983 gibt es mehr Videotheken als Kinos in der Bundesrepublik. In 4 850 Videotheken werden 128 Millionen Videos entliehen. In die 3 664 Kinos kommen nur 125 Millionen Besucher.

Aus dem anfänglichen Überangebot von Sex und Gewalt resultiert auch das Schmuddel­image, das der Videothekenbranche seither anhaftet. Thomas Klein, ehemaliger Mitarbeiter der ersten, 1989 gegründeten Berliner Off-Videothek »Videodrom:« »Das ›Videodrom‹ hat sich immer auch den schrägen, abseitigen, ungewohnten Themen und Filmen gewidmet. Die bedingungslose Liebe zu Kino, Subkultur und Kunst wird nicht immer richtig verstanden. Die Berliner Behörden witterten im Herbst 1999 jedenfalls Schmutz und Schund und Gefahr im Verzug: Der alte Video­drom-Slogan ›Widerliche Filme für widerliche Leute‹ kurbelte offenbar die Fantasien an. Doch die angeordnete Schließung hielt nicht lange dem Druck von (prominenten) Kunden und Medien stand. Ein Glück für die Freunde des Videodroms und das Geschäft selbst. Denn mit guten, auch ungewöhnlichen Filmen wird man nie reich. Höchstens berühmt...«. Bernd Puschmann hat seine »Video-City« in Frankfurt 1990 von vornherein als jugendfreie Familienvideothek mit unbeschränktem Zutritt konzipiert, die vom Filmklassiker bis zum Operntitel alles anbietet. Seine Erwachsenenvideothek im Nachbarhaus war nur zeitweise erfolgreich. »Mit Aufkommen der illegalen Downloads starb Sex & Crime völlig ab«, sagt er.

Nachdem die VHS-Kassette zwanzig Jahre lang das marktführende Heimvideosystem war, wird sie ab dem Jahr 2000 allmählich von der digitalen DVD und seit kurzem auch von dem High-Definition-Nachfolger Blu-Ray abgelöst. In einer Videothek werden heute kaum noch Videokassetten, sondern zunehmend die digitalen Medien mit längerer Haltbarkeit sowie Video- und Computerspiele verliehen. In der Industrie hat sich deshalb längst der Begriff Mediathek etabliert. Sinkende Verkaufspreise von DVDs und Blu-Rays machen den Erwerb von Spielfilmen nicht nur für Filmsammler attraktiv. Mit etwas Glück kann man heute einen millionenschweren Blockbuster aus Hollywood in HD-Qualität für etwa 15 Euro im Medienkaufhaus erwerben. Natürlich in voller Länge und mit diversen Hintergrundberichten. Im Jahr 2010 leihen laut Angabe der Gesellschaft für Konsumforschung nur noch 6,9 Millionen Kunden Filme physisch in der guten alten Videothek an der Ecke aus. Virtuelle Videotheken im Internet und Onlinepiraterie stellen das Geschäftskonzept infrage.

Thomas Groh von der Filmkunstbar »Fitzcarraldo« in Berlin-Kreuzberg gibt zu: »Wenn es die üblichen Hollywoodproduktionen in einem legalen Online-Streamangebot instant abrufbar, zum kleinen Preis und in vernünftiger Qualität gibt, wird der Gang zur Videothek samt Rückgabestress zum leeren Ritual.«

»Vor allem die großen Kinofilme werden bei uns viel weniger nachgefragt«, sagt Puschmann. »Viele potenzielle Kunden beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit allen möglichen Aktivitäten am Computer und im Internet, so dass sie weniger Zeit haben, sich Spielfilme in Ruhe anzuschauen. Vor allem junge Menschen sind kaum noch Videothekenkunden.«

»DVDs ausleihen ist noch älter als Madonnas Möpse«, sagt der vorlaute kleine Bengel Stan 2012 in der Halloween-Folge A Nightmare On Facetime aus der für ihren Zynismus bekannten Trickfilm-TV-Serie »South Park«. Stans Vater hat unglaublich günstig eine Filiale von »Blockbuster Video« gekauft, die sich alsbald in das Overlook-Hotel aus Stanley ­Kubricks Shining (1980) verwandelt. Ein gruseliger Ort, an dem die Geister der Vergangenheit umher spuken und es nur Filme aus den 80ern wie Blade Runner oder Robocop 2 zu leihen gibt.

Mittlerweile sind tatsächlich alle der einst weltweit über 8 000 Filialen von »Blockbuster Video«, der 1985 in Dallas gegründeten, größten Franchise-Videothekenkette, geschlossen. »Das war keine leichte Entscheidung, aber die Kunden fordern klar den Wechsel zum digitalen Vertrieb der Videounterhaltung«, wird Joseph P. Clayton, der Präsident des Mutterkonzerns DISH Network, der die familienfreundliche aber insolvente Videothekenkette 2011 übernahm, von Nachrichtendiensten zitiert. »Blockbuster ist in Deutschland mit Verzicht auf Pornos gescheitert«, urteilte »Die Wirtschaftswoche« pragmatisch. Kurzfristige Zuwächse im Verleihgeschäft verzeichnen die übrig gebliebenen Videotheken heute höchs­tens noch, wenn illegale Video-on-Demand-Websites wie Kino.to abgeschaltet werden oder übereifrige Anwälte rechtliche Grauzonen ausnutzen, um die Nutzer von Sex-Websites wie Youporn oder Redtube mit Abmahnwellen zu verschrecken.

Doch gerade wenn die Mainstream-Videotheken sowohl mit als auch ohne Schmuddelfilmabteilungen im Sterben liegen und sich im Wesentlichen nur noch mit dem Verkauf von Kartoffelchips und Bier über Wasser halten, könnte nun wieder, zumindest in den Großstädten, die Stunde der engagierten Einzelkämpfer in der Branche geschlagen haben. Bernd Puschmann von »Video-City« sieht die derzeitige Entwicklung mit gemischten Gefühlen: »Indem alle vom Videothekensterben reden, wird die filminteressierte Kundschaft zunehmend verunsichert. Dies spüren wir durch entsprechende Nachfragen in unserem Geschäft. Wir gehen davon aus, dass einige wenige Videotheken mit sehr breitem Angebot weiter existieren können. Wir führen gegenwärtig über 70 000 Verleihartikel, darunter sehr viele noch als VHS, da sie bisher nicht auf DVD erhältlich sind. Wir haben unseren Filmbestand in über 23 Jahren aufgebaut und nichts abgegeben, so dass er sich kontinuierlich vergrößert hat. Wir verfügen praktisch über ein Filmarchiv.«

Auch Thomas Groh von der Filmkunstbar »Fitzcarraldo« ist zuversichtlich: »Off-Videotheken mit kuratiertem Programm und netten Leuten an der Kasse, mit denen man auch mal über Filme plaudern kann, genießen jetzt sicher einen kleinen Vorteil. Wirtschaftliche Kompromisse gibt es immer, doch legen wir einen deutlichen Fokus auf Filme, die sich nicht unbedingt schon nach zwei Wochen gerechnet haben müssen, aber kontinuierlich interessant bleiben. Da wir keine Filme aus dem Sortiment nehmen, sondern sammeln und das Angebot thematisch sortieren, macht man bei uns schnell Entdeckungen, auf die man digital nicht so schnell stößt. Mit über 10 000 Filmen aus aller Welt können wir es in Masse und Klasse derzeit mit den meisten legalen Netzangeboten noch locker auf­nehmen.«

Für die 235. »South Park«-Episode mit der gruseligen Blockbuster-Videothek muss man selbstverständlich nicht den beschwerlichen Weg zur Videothek antreten. Die Folge ist jederzeit kostenlos und legal auf www.southpark.de abrufbar.

 

 

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