Lav Diaz: Zeit zum Sehen

Lav Diaz am Set von »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« (2016). © Bradley Liew

Lav Diaz am Set von »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« (2016). © Bradley Liew

Der philippinische Autorenfilmer Lav Diaz bringt Bilder auf die Leinwand, in denen man sich verlieren kann – stundenlang. Sascha Westphal über den Traum von einem entgrenzten Kino

Der Blick der Kamera fällt von einem leicht erhöhten Standpunkt auf eine menschenleere Landschaft. In der Ferne verschmelzen die eleganten Grautöne der Schwarzweißbilder. Himmel und Erde werden eins. Nur der Wind, der mal laut rauscht, mal kaum hörbar ist, bringt etwas Bewegung in diese erhabenen Panoramen, in denen sich nicht nur der Kamerablick zu verlieren scheint. Gräser wiegen sich, große Palmblätter schwingen, und über allem ziehen meist dünne Wolken. Gelegentlich regnet es. Selbst wenn sich vor dem Horizont Gebäude abzeichnen, ist die Natur in diesen grandiosen Bildkompositionen, die an Gemälde aus dem 19. Jahrhundert erinnern, ganz bei sich. Die Zeit scheint praktisch stillzustehen. Erst wenn schließlich im Hintergrund doch noch Menschen ins Bild treten, zunächst winzig, und Schritt für Schritt der Kamera näherkommen, setzt die strenge Herrschaft der Zeit wieder ein. Der zurückgelegte Weg wird zu ihrem Maß und erinnert den Betrachter daran, dass er gerade dabei war, sich und seiner Welt abhanden zu kommen.

»The Woman who left« (2016). © Grandfilm

Diese langen, starren Einstellungen, in denen kaum etwas passiert, finden sich in nahezu allen Filmen des philippinischen Kino-Auteurs Lav Diaz. Nur die Landschaften wechseln von Film zu Film, von Situation zu Situation. Mal geht der Blick über einen Fluss, auf dem vielleicht riesige Äste und andere Gegenstände von den Verwüstungen eines tropischen Sturms zeugen, dann wieder über ein Reisfeld oder eine Hügelgruppe mit sanft geschwungenen Wiesen und Wegen. Die Natur kommt in diesen Kinobildern im wahrsten Sinne vor den Menschen, und sie ist immer noch da, wenn Diaz' Figuren längst wieder aus dem Blickfeld der Kamera herausgetreten sind. Die Perspektive verschiebt sich, und genau das weckt Erinnerungen an eine Tendenz im Welt- und Autorenkino, die meist mit Labeln wie Slow Cinema oder Contemplative Cinema versehen wird.

Berühmt geworden ist die Bezeichnung Slow Cinema im Frühjahr 2010 durch einen in der britischen Zeitschrift »Sight & Sound« erschienenen Artikel des Filmkritikers Jonathan Romney, der mit ihm das »spröde, minimalistische Kino«, das im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die großen Filmfestivals geprägt und zum Teil auch dominiert hat, auf eine griffige Formel brachte. Slow Cinema, das heißt: lange, nicht selten starre Einstellungen, kaum Dialog, oft skizzenhafte Handlungen, die Alltägliches betonen, und ein ausgeprägter Hang seitens der Filmemacher zu (Stimmungs-)Bildern, die stärker auf Atmosphäre als auf äußere Dramatik setzen.

Die Stammväter dieses cineastischen Zeitphänomens sind die großen Kino-Modernisten der 1950er bis 1970er Jahre: Michelangelo Antonioni und Andrei Tarkovsky, Ingmar Bergman und Theo Angelopoulos. Ein ganz besonderer Platz in dieser Ahnengalerie gebührt natürlich Carl Theodor Dreyer. Aber so wie ihre Vorgänger letztlich unterschiedliche Wege beschritten haben, sind auch die Vertreterinnen und Vertreter des Slow Cinema keine einheitliche Gruppe. Es gibt neben den schon beschriebenen stilistischen Gemeinsamkeiten auch thematische Verbindungen zwischen den Werken von Kelly Reichardt und Pedro Costa, von Angela Schanelec und Jia Zhangke, von Lucrecia Martel und Béla Tarr, von Fred Kelemen und Lisandro Alonso. Trotzdem offenbart schon ein nicht allzu intensiver Blick auf ihre Arbeiten die Unzulänglichkeiten der von Romney geöffneten Schublade. Versucht man dann noch, wie schon oft geschehen, die mysteriösen, sich lustvoll ins Irreale aufschwingenden Filme von Apichatpong Weerasethakul in eben diese Lade zu pressen, kommt sie endgültig an die Grenzen ihrer Kapazität. Da bleibt wahrlich kein Platz mehr für Lav Diaz. Der hat sich übrigens im Februar 2016 während der Pressekonferenz nach dem Berlinale-Screening von »A Lullaby to the Sorrowful Mystery«, seines gut achtstündigen Exkurses in die philippinische Kolonialgeschichte des späten 19. Jahrhunderts, deutlich von dieser Art der Kategorisierung des Kinos distanziert: »We're labeled ›the slow cinema‹ but it's not slow cinema, it's cinema.«

»Es ist Kino«? So einfach ist es dann doch nicht. Schließlich hat der am 30. Dezember 1958 auf der Insel Mindanao geborene Regisseur, der in 20 Jahren 16 Spielfilme gedreht hat, die meisten zwischen vier und zehn Stunden lang, die Grenzen dessen, was wir gemeinhin unter Kino verstehen, immer wieder konsequent gesprengt. Ein zentrales Merkmal des Slow Cinema ist zweifellos, dass es die Zeit, die vergeht, ins Zentrum der Wahrnehmung rückt. Das lange Verweilen auf einem Motiv und die starren Perspektiven lenken die Aufmerksamkeit unweigerlich auf die Dauer der Einstellung. Die Zeit bekommt ein anderes Gewicht als im von vielen Schnitten und sprunghaften Perspektivwechseln gezeichneten Mainstreamkino. Trotzdem haben sich die meisten Slow Cinema-Regisseure mit einer Konvention des Mainstream-Kinos arrangiert: Ihre Filme sind in der Regel zwischen anderthalb und drei Stunden lang und unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von den exzessiven, auch immer länger gewordenen Blockbuster-Produktionen aus Hollywood. Natürlich gibt es Ausnahmen wie Béla Tarrs siebenstündiges Opus magnum »Sátántangó«. Doch die erinnern nur umso nachdrücklicher daran, dass sich auch das Slow Cinema gewissen Anforderungen des kommerziellen, genauer: kommerziell verwertbaren Kinos unterwirft.

Dem Diktat der Filmindustrie, das auf den Philippinen noch einmal deutlich härter als in Europa und den Vereinigten Staaten ist, hat sich Lav Diaz nur ganz zu Beginn seiner Karriere als Regisseur gefügt. Seine ersten vier Filme, »Serafin Geronimo: The Criminal of Barrio Concepcion« (1998), »Burger Boys« (1999), »Naked Under the Moon« (1999) und den fünfstündigen »Hesus the Revolutionary« (2002), hat er für die Produktionsgesellschaft Golden Harvest realisiert. Sie waren Teil von deren »pito-pito«-Programm. Pito-pito heißt Sieben-Sieben. Dem Filmemacher standen zur Realisation seines Werks genau sieben Drehtage und sieben Tage für die Postproduktion zur Verfügung. Er musste mit einem Budget von 2,5 Millionen Pesos, damals etwa 100 000 Mark, auskommen und bekam selbst eine sehr geringe Gage.

Dieses ins Extrem gesteigerte kapitalistische Ausbeutungssystem, das nicht einmal durch eine gewisse künstlerische Freiheit versüßt wurde, wie sie US-amerikanische Exploitation- und Genreregisseure immer wieder genossen haben, ließ sich in keiner Weise mit Diaz' Vision vereinbaren. Und so hat er sich 2005 mit »Evolution of a Filipino Family«, einem historischen Panorama des von 1972 bis 1986 währenden Marcos-Regimes, endgültig von der Filmindustrie und ihren Mechanismen befreit. Möglich wurde dieser radikale Bruch durch den technischen Fortschritt. Das etwa zehneinhalbstündige Epos über zwei Familien, die dem ewigen Kreislauf von Armut und Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung schutzlos ausgeliefert sind, ist der erste Film, den Diaz mit einer MiniDV-Kamera gedreht hat. Der Schritt hin zur Videokamera kommt dabei durchaus einem revolutionären Akt gleich. Anders als Lino Brocka, der Pionier unter den philippinischen Auteurs, vor dem sich Diaz in »Evolution« mit zwei Szenen verneigt, muss er seit 2005 keinerlei Kompromisse mehr eingehen. Brockas Faustregel, die er in einem von Diaz mit Schauspielern nachinszenierten Radiointerview aufgestellt hat, derzufolge ein Filmemacher vier, fünf Produktionen für ein Studio realisieren muss, um ein persönliches Projekt verwirklichen zu können, gilt im 21. Jahrhundert nicht mehr. Plötzlich war es möglich, sich zumindest künstlerisch aus den kapitalistischen Verhältnissen, in denen sich immer auch die Kolonial- und Ausbeutungsgeschichte der philippinischen Bevölkerung spiegelt, zu lösen. Und gerade in dieser Hinsicht bekommt Zeit in den Filmen von Diaz neben ihrer philosophischen eine explizit politische Dimension.

In Interviews verweist Lav Diaz immer wieder darauf, dass es die spanischen Kolonialherren, die dem Entdecker Magellan folgten, waren, die das Konzept von Zeit als etwas, das genutzt werden muss, auf den Philippinen eingeführt haben. Für die Malaien, die ursprünglichen Bewohner der philippinischen Inseln, hatte Zeit laut Diaz keinen eigenen Wert. Ihr Leben richtet sich ganz am Land und den zerstörerischen Kräften der Natur aus, denen die Inseln immer schon ausgeliefert waren. Die westliche Überzeugung, dass Zeit Geld ist, wurde zum zentralen Unterdrückungswerkzeug, von dem sich die Bevölkerung auch nach dem Ende der Kolonialzeit nicht mehr befreien konnte. Insofern sind Diaz' extrem langen Filme Oasen einer radikal divergenten Ökonomie. Zeit ist ein Geschenk, das es jedem einzelnen ermöglicht, die Menschen und die Welt aus einer anderen Perspektive zu erfahren.

Zu Beginn von »Death in the Land of Encantos« (2007), einem intimen Porträt dreier seit ihrer gemeinsamen Jugend befreundeter Künstler, das sich schließlich in eine leidenschaftliche Anklage gegen staatlichen Terror ausweitet, kehrt der Dichter und frühere politische Aktivist Benjamin Agusan nach sieben Jahren in Russland und Westeuropa nach Padang zurück. Nur ist von seinem Heimatdorf fast nichts mehr übrig. Eine Woche zuvor hat der Taifun Durian die Dörfer und Siedlungen am Fuße des Vulkans Mayon in ein Trümmerfeld verwandelt. Nun sieht man, wie der verstörte Poet durch eine schwarze Wüste geht und sich schließlich auf einer Bank, die der Sturm verschont hat, niederlässt. Dort bricht er in Tränen aus, die nicht mehr aufhören wollen zu fließen.

Fast zehn Minuten währt diese Einstellung, in der die Kamera in halbnaher Position verweilt. Die Emotionen, die Benjamin überwältigen, werden real, ohne sich dem Betrachter auf sentimentale Weise aufzudrängen. Man erfährt seinen Schmerz und seine Trauer und versteht plötzlich noch etwas ganz anderes. Dieser eine Moment der Verzweiflung ist so etwas wie der Kern des Diaz'schen Kosmos. Wirtschaftliche Zwänge haben das Kino immer eingeschränkt. Zeit mag für Produzenten und Kinobesitzer Geld sein, für den Künstler ist sie aber in erster Linie ein Mittel, seine Vision zu formen.

Wer in die Filme von Lav Diaz abtaucht, sich in seinen atemberaubenden, fortwährend das Ideal des goldenen Schnitts zitierenden und variierenden Bildkompositionen verliert, begreift schlagartig die Willkür der typischen Filmlängen. Plötzlich ist da die Utopie eines Kinos, das in seiner Offenheit der Literatur auf Augenhöhe begegnet. Es gibt Geschichten, die sich, wie die der Frau, die in »Elegy to the Visitor from the Revolution« gleich einem Geist, einem Musiker und einer Prostituierten unserer Tage erscheint, tatsächlich in 80 Minuten erzählen lassen, die als poetische Skizze einen ungeheuren Sog entwickeln. Und es gibt Geschichten, die wie ein 1500-Seiten-Roman gezielt in die Breite und ins Detail gehen müssen. Eben diese Freiheit hat sich Lav Diaz stellvertretend für alle Filmemacher genommen.

Einmal spricht Benjamin mit seinem Jugendfreund und ewigen Konkurrenten Teodoro über Russland und schwärmt dabei vor allem von der »Psychologie und dem ungeheuren Ausmaß der Romane Dostojewskis«. Als Betrachter möchte man sofort in die Eloge einstimmen, nur wird dabei aus Dostojewski Diaz. Seine Filme spielen nicht nur auf Romane wie »Schuld und Sühne«, den Diaz mit »Norte, the End of History« (2013) sehr frei adaptiert hat, »Die Dämonen« und »Der Idiot« an. Sie teilen vielmehr mit ihnen das »ungeheure Ausmaß«, das Benjamin so verzückt. Auf den ersten Blick gibt es kaum konkrete Verbindungen zwischen »From What Is Before« (2014), in dem Lav Diaz von den Monaten vor und nach der Verhängung des Kriegsrechts durch Präsident Marcos erzählt, und den »Dämonen«, Dostojewskis Abrechnung mit den zerstörerischen und terroristischen Tendenzen des russischen Anarchismus des 19. Jahrhunderts. Aber Diaz' Porträt einer von der herrschenden Schicht zunächst vergessenen und später aktiv bekämpften Dorfgemeinschaft, die von seltsamen Vorkommnissen und rätselhaften Todesfällen heimgesucht wird, zeichnet ein ebenso vielschichtiges Bild einer haltlosen, von Machtgier, zynischem Kalkül und tödlicher Autoritätshörigkeit zerfressenen Gesellschaft wie der Roman. Wie »Death in the Land of Encantos« und »Norte« versinkt auch »From What is Before« in tiefster Schwärze. Aber die Kompromisslosigkeit von Diaz' Vision provoziert zugleich eine Sehnsucht nach einer anderen Welt. Die Utopie eines vollkommen freien Kinos ist die Vorstufe der Utopie einer freien Gesellschaft.

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