65. Nordische Filmtage Lübeck

Fast magische Momente
»Practice« (2023). © Laurens Pérol / Krystallplaneten

»Practice« (2023). © Laurens Pérol / Krystallplaneten

Die 65. Ausgabe der Nordischen Filmtage zeigte den skandinavischen Film in seiner ganzen Vielfalt – einfühlsam, rau, turbulent, gesellschaftskritisch und visuell opulent

Preisverleihungen bei Filmfestivals sind, auch wenn ihre Ergebnisse natürlich von allen mit Spannung erwartet werden, oftmals eher ein gesellschaftliches Event. Und wenn Politiker reden und endlose Danksagungen folgen, zieht sich das gern in die Länge. Das ist in Lübeck glücklicherweise anders, wo die von Loretta Stern moderierte Zeremonie angenehm zügig und doch auch emotional genug vonstatten geht. Und in diesem Jahr gab es einen regelrecht magischen Moment: als das Licht ausging, sich die Scheinwerfer auf eine Tür richteten, aus der eine junge Frau in gelbem Anorak, Rollkoffer und Rucksack herauskam. Langsam ging sie auf die Bühne und spielte dort mit ihrer Trompete das Stück »Oblivion« von Astor Piazzola. Diese Performance war quasi ein Ausschnitt aus und eine Hommage an den norwegisch-deutschen Film »Practice« (Å Øve). Kornelia Melsæter spielt in dem schönen Roadmovie eine junge Musikerin, die zum Vorspielen mit ihrer Trompete von den Lofoten nach Oslo trampt (aus Klimaschutzgründen!) – und unterwegs immer übt, in Scheunen, auf Wiesen, in Garagen. Fünf Tage dauert die Reise der jungen Frau, und ob sie aus Enthusiasmus, Konsequenz oder nur Sturheit passiert, lässt der Film angenehm offen. Dass das Team um Regisseur Laurens Pérol im Anschluss den Publikumspreis von der Festival-Schirmherrin Liv Ullmann überreicht bekam, war natürlich Zeremoniendramaturgie.

Die Nordischen Filmtage in Lübeck sind das größte Schaufenster des skandinavischen und baltischen Films in Europa, mit einem immer wieder vielfältigen Programm. In diesem Jahr waren im Wettbewerb Finnland und Dänemark stark vertreten (die meisten Filme sind sowieso Co-Produktionen), aus Dänemark kam etwa »King's Land« (Bastarden), so etwas wie ein Nord-Western. Mads Mikkelsen spielt einen ehemaligen Militär, der davon träumt, die Heide Jütlands in Ackerland zu verwandeln – und einen adeligen Großgrundbesitzer gegen sich hat. Gut und Böse sind klar verteilt in diesem Film des »Millenium«-Drehbuchautors Nikolaj Arcel, der mit einer großen visuellen Opulenz punktet.

Herzstück des Wettbewerbs waren aber zwei Filme, die sich mit dem Schicksal und der Diskriminierung der Samen beschäftigten, die im Norden von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland leben. »Je'vida« von Katja Gauriloff (Finnland) erzählt in ruhigen, fast lyrischen Schwarzweißbildern die Lebensgeschichte von Je'vida, die bei ihren Großeltern aufwuchs, von den Behörden in den fünfziger Jahren auf ein christliches Internat (die Skoltsamen stammen ursprünglich aus Russland und sind orthodox) gezwungen wurde und dort mit Mobbing von den Lehrenden und den Schülern konfrontiert ist. Und »Let the River Flow« von Ole Giæver (Norwegen) dreht sich um den Protest der Samen im nördlichen Norwegen Ende der siebziger Jahre gegen den Bau eines Staudamms. Der jungen Lehrerin Ester (Ella Marie Hætta Isaksen) ist ihre samische Abstammung, wie vielen damals, zuerst peinlich, doch engagiert sie sich immer mehr in den Protesten. Beide Filme zeigen von subtil bis eindringlich die Ressentiments und die normative Macht der Mehrheitsgesellschaft.

Der Protest gegen den Alta-Stausee wiederum war eine frühe Umweltschutzinitiative. Was vom – linken – Aktivismus übriggeblieben ist, seziert Lukas Moodysson in »Zusammen 99«, seiner Fortsetzung von »Zusammen«, dem turbulenten und doch sympathischen Porträt einer »Kommune« im Schweden des Jahres 1975. In der Fortsetzung führt er die Mitglieder der WG wieder zusammen, im Jahr 1999. Der Ton ist rauer geworden, bösartiger, seine Figuren fast psychotisch.

Zu den schönsten Filmen des Wettbewerbs gehörte der litauische »Slow« von Marija Kavtaradze, eine Liebesgeschichte zwischen einer Tanzlehrerin und einem sich selbst als asexuell definierenden Gebärdendolmetscher. Ein einfühlsamer Film ohne Schuldzuweisungen – und sehr körperbetont. Den Hauptpreis, den NDR Filmpreis, gewonnen hat aber »Family Time« (Mummola, Finnland/Schweden) von Tia Kouvo. Ein streng komponierter Film mit minutenlangen statischen Einstellungen um ein Familien-Weihnachtsfest. Nicht jeder konnte dem Film etwas abgewinnen, aber in seinen besten Momenten erinnert »Family Time« an die Lakonie in den Filmen des Schweden Roy Andersson, der zu Beginn des Festivals mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet wurde.

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