Mütter, Söhne, Neuanfänge

TV-Vierteiler "Southcliffe"

Unter neuer Leitung: Das 31. Filmfestival Turin präsentierte ein starkes Programm, dessen Filme auf Subtilität und feine Beobachtungsgabe setzten

Kaum einem Ort dürfte die Cinephilie so unübersehbar ins Stadtbild eingeprägt sein wie Turin: Knapp 170 Meter hoch ragt die »Mole Antonelliana« in den Himmel – sie ist das Wahrzeichen der Stadt und weithin sichtbare Heimstatt des Nationalen Filmmuseums. Im 19. Jahrhundert als Synagoge konzipiert, kann man in dem Prachtbau heute eine hervorragende Ausstellung zu allen Facetten der Kinematographie bestaunen. 
 
Es hat inzwischen Tradition, dass die Festivalleitung in den Händen eines renommierten Filmemachers liegt: Auf Nanni Moretti und Gianni Amelio folgte in diesem Jahr Paolo Virzi. Ganz leicht war sein Start nicht, denn seit 2012 hat das Filmfestival Rom seinen Termin auf Mitte November und damit direkt vor Turin gelegt. Zur absurden Situation, dass die drei wichtigsten italienischen Filmfestivals innerhalb von knapp zwölf Wochen stattfinden, kommt nun noch die Rivalität zwischen Rom und Turin um Rang zwei  nach Venedig hinzu. Und wenngleich die italienischen Fachkollegen das finanziell besser bestückte Hauptstadtfestival für seine neureiche Ellenbogenattitüde bespötteln, meinte man dem Turiner Programm die mächtige Konkurrenz anzumerken. Gerade die namhaftesten Filme hatten diesmal bereits zahllose Festivalauswertungen hinter sich, wie zum Beispiel Prince Avalanche, Inside Llewyn Davis oder Frances Ha. Dem heimischen Publikum kann das egal sein – ein Zuwachs von 35 Prozent an Ticketverkäufen spricht für sich. Für das langfristige Renommee Turins aber, das stets mehr als ein reines Stadtfestival sein wollte, dürften exklusivere Premieren immer bedeutender werden.
 
Dessen ungeachtet war die Qualität vor allem des Wettbewerbs in diesem Jahr sehr gut, und Entdeckungen gab es in allen Sektionen zu machen. Virzi setzte zum Einstand auf betont ruhige, introspektive Arbeiten. ­Sean Durkins britischer TV-Vierteiler »Southcliffe« etwa, nach einem Drehbuch von Tony Grisoni (»Red-Riding«-Trilogie), erzählt von Bewohnern eines nordenglischen Fischerdorfs, die an den emotionalen Nachwirkungen eines Amoklaufs zu zerbrechen drohen. Durkin arbeitet wie in seinem Kinodebüt Martha Marcy May Marlene mit präzisen Beobachtungen scheinbar alltäglicher Handlungen und sorgt mit kleinsten Details für das bestimmte Gefühl, dass für diese Menschen kaum je wieder etwas »alltäglich« sein wird.
 
Betont antidramatisch und dabei hochsensibel auch der Low-Budget-Spielfilm This Is Martin Bonner über einen Mittfünfziger, der sein bisheriges Leben aufgibt, um als Sozialarbeiter nochmal neu anzufangen. Auf der Handlungsebene passiert nichts, was sich in spannende Worte fassen lässt: Man beobachtet Bonner vor allem bei bürokratischen Verrichtungen oder im Gespräch mit einem entlassenen Strafgefangenen, dem er bei der gesellschaftlichen Wiedereingliederung hilft. Aber allein wie der großartige Hauptdarsteller Paul Eenhoorn die gelassene Zufriedenheit eines Mannes nachfühlbar macht, der noch einmal eine persönliche Bestimmung gefunden hat, ist zutiefst berührend.
 
Erzählungen über existentielle Situationen und persönliche Neuanfänge zogen sich wie ein roter Faden durch alle Sektionen des Festivals. Die beiden großen Siegerfilme des Spielfilmwettbewerbs handelten von Jungen, die auf sehr unterschiedliche Weise versuchen, sich von ihren alleinerziehenden Müttern zu emanzipieren: In der bittersüßen venezuelanischen Milieustudie Pelo Malo, ausgezeichnet für Drehbuch und Hauptdarstellerin, wird der Traum eines kleinen Jungen, durch die Glättung seiner gelockten Haare wie ein Popstar auszusehen, zu einer unaufdringlichen Metapher für das soziale Gefälle des Landes. Die mexikanische Coming-of-Age-Geschichte Club Sandwich, zu recht als »Bester Film« prämiert, inszeniert die Abnabelung eines schüchternen 16-jährigen Mamasöhnchens als feingliedriges Kammerspiel. An der Oberfläche passiert auch in diesem Film fast nichts, und doch ist ganz klar, dass die Welt der beiden Hauptfiguren sich gerade für immer verändert. Wie sich da im Gesicht der kumpelhaften Mutter die Erkenntnis spiegelt, dass ihr Sohn nun in eine andere Lebensphase gleitet, während der Sohn und seine Freundin ungeduldig auf das Alleinsein hinfiebern, und wie sich diese Anspannung in einem Kuss auflöst, der tiefe Zuneigung und zugleich Abschied signalisiert, gehörte zu den großen, zeitlosen Kinomomenten dieses Festivaljahrgangs. Wer denkt da noch an Weltpremieren?

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