Kritik zu A Touch of Sin

© Rapid Eye Movies

2013
Original-Titel: 
Tian zhu ding
Filmstart in Deutschland: 
16.01.2014
L: 
133 Min
FSK: 
16

China hat offensichtlich Anschluss an kapitalistische Tugenden gefunden: Jia Zhang-ke porträtiert in seinem Episodenfilm eine Gesellschaft am Zerreißpunkt, geprägt von Entwurzelung, Unrecht und Gewalt

Bewertung: 5
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 8)

Die Historie ist zur Travestie verkommen. In einem Nachtclub marschiert ein Trupp in olivgrünen Uniformen auf, mit zackigem Schritt und Handkante am Käppi, auf dem der rote Stern prangt. Doch diese Volksbefreiungsarmee besteht aus Amüsierdamen, die mit äußerst knappen Röcken die betuchten Gäste des Clubs animieren sollen. Zum Einzelrendezvous verwandeln sie sich dann je nach Wunsch auch in Krankenschwestern oder Fahrkartenkontrolleurinnen. Der Kunde ist König, China hat offensichtlich den Anschluss an kapitalistische Tugenden gefunden.

Es ist ein bitteres Bild, das Jia Zhang-ke von seinem Heimatland zeichnet. Entwurzelte Menschen zeigt er, Leidtragende einer rasanten Veränderung, bei der sie nicht Schritt halten können, während Partei- und Wirtschaftsbosse Hand in Hand die neuen Reichtümer des Landes unter sich aufteilen. Anders als in seinen vorherigen Filmen wie Platform oder Still Life ist die Sozialkritik in A Touch of Sin nicht still und auf den Alltag fokussiert. Sein neuer Film, Gewinner des Drehbuchpreises in Cannes, erzählt vier Schicksale, die allesamt auf wahren Begebenheiten beruhen und in erschreckende Ausbrüche von Gewalt münden – nicht als Lösung, sondern als scheinbar einziger Ausweg aus unerträglichen Situationen.

Nur lose sind die Episoden miteinander verbunden, etwa durch zufällige Begegnungen ihrer Protagonisten, und sie spielen in ganz verschiedenen Teilen des Landes. Jia Zhang-kes erklärter Anspruch ist es, ein weit gefasstes Panorama des heutigen China zu entwerfen. So begibt er sich mit seinem Ensemble aus dort prominenten Schauspielern und Schauspielerinnen wie etwa Zhao Tao (Venezianische Freundschaft) und Laien auf eine Reise von Bergarbeitersiedlungen zu Millionenstädten, vom Großbahnhof zur Dorfstube, vom fahlen Licht der Fabriken und Hochhaussiedlungen in die neonbunten Straßen der Vergnügungsviertel.

Die Figuren sind Wanderer zwischen diesen Welten: Ein Minenarbeiter will Korruption und Ausbeutung durch die luxusliebenden Bosse nicht länger akzeptieren und rennt sinnlos gegen das System an – dann holt er sein Gewehr aus dem Schrank. Die Empfangsdame eines Massagesalons wird von Kunden gedemütigt und genötigt, bis sie ausrastet. Ein Wanderarbeiter besucht seine Familie auf dem Land und kehrt dann in die Stadt zurück, wo wir Zeuge werden, mit welchen Mitteln er seinen Anteil am Wohlstand an sich bringen will. Ein junger Fabrikarbeiter flieht vor der ungerechten Behandlung durch Vorgesetzte und scheint in erwähntem Nachtclub nicht nur ein Auskommen, sondern vielleicht sogar die große Liebe zu finden. Doch dann zerbricht auch schon wieder, was nur eine leise Ahnung von Glück war.

All das erzählt Jia Zhang-ke in einem aufwühlenden Kontrast der Mittel. Sein Stil ist zurückhaltend, wirkt fast stoisch mit seinen ruhigen Einstellungen, nur spärlich von Musik begleitet. Phasenweise könnte man sich in der berechenbaren Welt des Sozialrealismus wähnen. Umso verstörender sind die Szenen exzessiver, auch stilisierter Gewalt, die den Film immer wieder in die Sphäre drastischer Genrefilme verschieben. Anfangs verbreitet A Touch of Sin gar einen Hauch von Western. Ein Motorradfahrer wird da auf einsamer Bergstraße von Wegelagerern überfallen und schießt sie kaltblütig über den Haufen, auch bei den Minenarbeitern scheinen die Gesetze der Frontier zu gelten: das Recht des Stärkeren, hingeworfen in harschen Gesten und lakonischen Dialogen.

Die stilistische Kargheit im Verbund mit dem Reichtum an Motiven und Bedeutungen machen A Touch of Sin zu einem faszinierenden Werk. Sein Pessimismus ist durchaus plakativ, doch subtil und vielschichtig sind seine Bilder: Wenn er beispielsweise die Rolle des Geldes in Momenten von schlagender Schlichtheit dekliniert, wenn er mit Seitenblicken auf misshandelte oder aber freie und wilde Tiere menschliche Zustände spiegelt und immer wieder mit Augenblicken unverhoffter Poesie bezaubert. Jia Zhang-ke fügt seiner Gesellschaftskritik eine surreale Ebene hinzu, die den Realismus nicht schwächt, sondern intensiviert. Die scheinbare Einfachheit, mit der Sozialstudie und visionäre Kunst hier zusammenfinden, ist einzigartig.

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