Versuch am lebenden Bourgeois

Es kommt schon selten genug vor, dass Filmemacher sich demselben Stoff ein zweites Mal stellen. Gewiss, im klassischen Hollywood gab es eine schmale Tradition des Auto-Remake. Neben ihr fällt mir auf Anhieb nur Rudolf Thome ein, der sich wiederholt an Goethes „Wahlverwandtschaften“ heranwagte. In der Oper hingegen ist es einzigartig, dass ein Komponisten einen zweiten Anlauf unternimmt.

Der Italiener Giorgio Battistelli hat bereits vor mehr als drei Jahrzehnten Pasolinis „Teorema“ für das Musiktheater adaptiert. Damals geschah dies auf Geheiß seines Mentors Hans Werner Henze, der die Rechte für sich selbst erworben hatte, sie dann jedoch abtrat. Das Selbstremake im klassischen Kino war vor allem technischen Fortschritten geschuldet: Frank Capra, Cecil B. DeMille, Julien Duvivier und Hitchcock drehten Neufassungen, weil ihnen beim zweiten Mal die Möglichkeiten des Tons, der Farbe oder des Breitwandformats zugewachsen waren; William Wyler nahm sich 1961 Lilian Hellmans Skandalstück „The Children's Hour“ erneut vor, weil ihm die Zensur weniger Steine in den Weg legte als 1936.

Wenn man so will, ist auch Pasolinis „Teorema“ ein Remake, wenngleich ein unbewusstes, unwillentliches. Die Erzählkonstellation des Fremden, der das Leben einer Millionärsfamilie aus den Angeln hebt, erinnert stark an Gregory La Cavas kapitalismusfreundliche Screwballkomödie „My Man Godfrey“. Über eine solche Referenz ist ein hehrer Autorenfilmer wie Pasolini selbstverständlich erhaben - sein Film inspiriert sich vielmehr an Freud, Marx, Tolstoi und dem Neuen Testament. Er rechnet mit dem ab, was er als das Grundübel der Zivilisation betrachtet: die Bourgeoisie. Angesichts dessen spiritueller Leere ist es bei ihm mit der sittlichen Läuterung der Familie (auf die La Cava noch hoffte) nicht weit her. Die erotische Anfechtung, die das Auftauchen des namenlosen Gastes für jede seiner Figuren (Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Dienstmädchen) bedeutet, wirft ihr bürgerliches Selbstverständnis unwiderruflich aus der Bahn. Gleichwohl muss man diese Katharsis auch bei Pasolini nicht zwangsläufig verheerend finden. Im Geist von 1968 darf man ihre Ausbruchsversuche in eine fortan ungesicherte Existenz durchaus als Befreiung lesen. Gleichviel, nehmen wir den Verweis auf „My Man Godfrey“ mal als Indiz dafür, dass das Kino mit bestimmten Erzählungen einfach nicht fertig werden mag; allein schon aus purer Lust an Blickwechsel und Variation.

Wenn Battistelli „Teorema“ jetzt wieder aufgreift, folgt er ebenfalls einem Prinzip des Zugewinns, nun jedoch eines ästhetischen. Seine erste Annäherung an Pasolini ist eine Kurzoper ohne Gesangsstimmen, was sehr gut zur Verschwiegenheit seines Films passt, dessen Figuren die Sprache kaum zu Gebot steht und die stattdessen im Begehren der Körper zueinander finden. In „Il Teorema di Pasolini“ eröffnet der Komponist nun den Vokalpartien weite Spielräume bzw. Zuständigkeiten und verfolgt dabei zudem eine reizvolle Doppelstrategie. Den Haushalt der Mailänder Industriellenfamilie hat er im ersten Teil seines Einakters zweimal besetzt, mit Darstellern und Sängern. Im zweiten Teil ist diese Aufteilung aufgehoben, nun haben die Figuren ihre Gesangsstimme gefunden. Einzig der Gast braucht kein Double: Er ist von Anfang an eins mit sich.

Der Komponist fungiert auch (zusammen mit Ian Burton) als sein eigener Librettist. Klug nutzt er den Interpretationsspielraum, den Pasolini zulässt. Zuweilen verschiebt sich die Deutung schon in wenigen, knappen Worten. Aus der Telegrammbotschaft des Films - „Arrivo domani“ (Ankomme morgen) – wird in der Oper eine biblische Verkündigung: „Ich werde morgen bei euch sein.“ Für die neue Version hat sich Battistelli indes vorrangig an Pasolinis gleichzeitig mit dem Film entstandenen Roman orientiert. Um dessen Prosa gerecht zu werden, lässt er die Figuren von sich in der dritten Person singen. Sie drücken ihre Gefühle nicht direkt aus, sondern schildern und kommentieren sie.

Das klingt komplizierter, als es im Bühnengeschehen dann tatsächlich wirkt. Ich nahm dieses Prinzip als eine weitere Chiffre der Entfremdung: Battistelli hat Pasolini auf seiner Seite. Und das Premierenpublikum in der Deutschen Oper Berlin nicht minder. Es brach in einen frenetischen Schlussapplaus aus, der allen Mitwirkenden dieser Produktion galt. Der Kritiker der „Berliner Zeitung“ argwöhnte gar, hier seien Claqueure am Werk, besonders ein bestimmter Block im Publikum habe sich mit lautstarkem Enthusiasmus hervorgetan. Wenn dem so gewesen sein sollte, saß ich mitten im Epizentrum dieser rauschhaften Begeisterung. Die hingerissenen „Bravo!“- und „Brava!“-Rufe meiner Nachbarn klingen mir heute noch im Ohr. Das Haus an der Bismarckstraße hat mit dieser Auftragsarbeit in der Tat einen Glücksgriff getan. Ich bin sicher, dass der Premierenerfolg sich bei den weiteren Aufführungen in dieser (am 16. sowie am 21. Juni) und folgenden Spielzeiten wiederholen wird.

Die Warnungen von Freunden und Kollegen, ich müsse mich wohl auf ausgemacht modernistische Hörfolter gefasst machen, waren vollends unbegründet. Pasolini hatte bei Ennio Morricone damals eine diffizile Zwölftonpartitur bestellt; Dissonanz war gewissermaßen schon im Drehbuch festgeschrieben (wurde dann vom Regisseur allerdings nachträglich um Mozarts „Requiem“ und „Tears for Dolphy“ von Ted Curson ergänzt). Die Oper ist diesem Vorbild nicht verpflichtet: Sie sucht den unverstellten Zugang zum Publikum. Ihre Eindringlichkeit ist gleichsam breit gestreut, den Charakteren und ihrer Verwandlung zugeneigt. Bestimmt kommt es nicht von ungefähr, dass die Filmstoffe, die er bisher für die Bühne adaptiert hat, allesamt Ensemblestücke sind: Fellinis „Orchesterprobe“, „Das Wunder von Mailand“ von Vittorio de Sica und Cesare Zavattini sowie Pietro Germis sizilianische Sittenstudie „Scheidung auf Italienisch“.

Die Vielstimmigkeit hat Nina Wetzel in ein Bühnenbild übersetzt, das die Lebenssphären der Charaktere in sechs Guckkästen anordnet. In diesem theatralen Split-Screen laufen die Handlungsstränge mal getrennt voneinander ab, mal parallel, oder fließen ineinander. Das irische Regiekollektiv Dead Centre (tatsächlich ein Duo: Bush Moukarzel & Ben Kidd) findet einen einnehmenden Rhythmus dafür. Die Inszenierung nimmt Pasolinis Film-und Romantitel beim Wort. Das Theorem, also der naturwissenschaftliche Lehrsatz, wird bei Dead Centre zum Laborversuch am lebenden Objekt. Im ersten Teil überwachen Wissenschaftler in weißen Schutzanzügen, darunter die Gesangsdoubles der Charaktere, Blutdruck, Sauerstoffdichte und Gemütsverfassung der agierenden Figuren; auch Wärmebildkameras kommen zum Einsatz. Zudem rückt eine Videokamera den Darstellern zu Leibe, deren Nahaufnahmen groß aufs Bühnenbild projiziert werden. Das fand ich mitunter eine Spur zu überdeterminiert. Diese Inszenierung ist gleichermaßen theorie- wie praxislastig. Pasolinis Allegorie hält das aus - so unverwüstlich, wie sie ist.

 

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