Angstarre auf Rekordniveau

»Tschiller: Off Duty« (2015)

Mir selbst wäre es wahrscheinlich gar nicht in den Sinn gekommen, nach ihm zu suchen. Aber als die FAZ ihn nicht fand, wurde ich doch neugierig. In der Liste der fünf meistbesuchten Filmen der letzten Woche forschte sie nämlich überraschenderweise vergeblich nach ihm.

Bei dem Vermissten handelt es sich um »Tschiller: Off duty«, den Kino-Tatort mit Til Schweiger. Nicht, dass ich ihm wirklich entgegengefiebert hätte. Der Kontostand des Verleihs ist mir egal. Aber ich hatte das Gefühl, dass an seinem Erfolg oder Misserfolg eine ganze Menge hängen könnte. Im ersten Fall hätte er die Strukturen bestimmt ein wenig aufgemischt. Die eherne Regel, das populäre deutsche Kino könne nur drei Genres, Komödie, Kinderfilm und Zeitgeschichte (nun ja, das galt zu Lebzeiten Bernd Eichingers), wäre endlich außer Kraft gesetzt. Aber nun darf alles beim Alten bleiben und ein Genre-Kino, wie es sich beispielsweise ein Dominik Graf wacker erträumt, hat außerhalb des Fernsehens vorerst keine Chance ...

Warum sollte sich auch etwas ändern? In diesem Jahr lief es ja prächtig, wie die Filmförderungsanstalt pünktlich zu Berlinale mitteilt. Sie darf ein Rekordjahr vermelden, ein Umsatzplus von fast 20 Prozent insgesamt und mit 27,5 Prozent den angeblich besten Marktanteil einheimischer Filme aller Zeiten. Da frage ich mich, wann diese Ewigkeit denn begonnen hat? Will man uns wirklich weismachen, dass der in den 50er und frühen 60er Jahren nicht höher lag? Ganz abgesehen davon, dass man sich in Frankreich oder der Tschechischen Republik ernstlich Sorgen machen würde, wenn einheimische Produktionen nur etwas über ein Viertel der Kinokarten verkauft hätten. Und die Behauptung, die hiesige Komödie sei zu einer »Qualitätsmarke« für das Publikum geworden, mag ich auch nicht ohne weiteres schlucken. Die Nachricht, das Kinosterben sei aufgehalten und der Trend sogar umgedreht worden (55 mehr Säle als im Vorjahr) hört sich erst einmal erfreulich an. Was in ihnen läuft ist hingegen eine Frage, auf die es womöglich keine so ermutigende Antwort gibt.

Gleichzeitig ist die Berlinale ja traditionell ein Anlass zu bitteren Abrechnungen mit dem Status Quo im deutschen Film. In den großen Feuilletons und anderswo verschafft sich regelmäßig mindestens eine Stimme Gehör, die die Misere nachdrücklich beklagt. Vor zwei Jahren war es der rabaukenhafte Angriff Dietrich Brüggemanns auf die Berliner Schule, der zwei aufschlussreiche Auswirkungen hatte. Erstens konnte der Regisseur im Folgejahr seinen neuen Film im Wettbewerb platzieren und zweitens führt heute kaum Jemand mehr den Begriff im Munde. Den Regisseuren, die dieser Schule zugerechnet werden, nein: wurden, behagte diese Schublade ohnehin nicht. Man könnte also annehmen, die Gemengelage im hiesigen Autorenfilm hätte sich seither diversifiziert. Aber mir scheint, sie hat sich nurmehr zerstreut. Der Umstand, dass es diesmal nur ein deutscher Film in den Berlinale-Wettbewerb geschafft hat, scheint dies zu bestätigen. Als Menetekel muss man das noch nicht lesen. Aber die Frage der nationalen und internationalen Ausstrahlung hat eine neue Dringlichkeit gewonnen.

Der Verband der deutschen Filmkritik hat dazu zwei Diskussionsveranstaltungen (mit-)gestaltet, auf die ich bei anderer Gelegenheit ausführlicher eingehen will. Wie zu erwarten war, hat sich auch Christoph Hochhäusler wieder zu dem Thema zu Wort gemeldet (in einem Blogeintrag, der übersprudelt von originell irrlichternden Ideen –  kein vergiftetes Kompliment, seine Brandrede wider die pathologische Nettigkeit deutscher Filmemacher und seine Unterscheidung zwischen katholischen und protestantischen Regisseuren sind bemerkenswert). Aber die beziehungsreichste Bestandsaufnahme stammt von Dominik Graf. Sie wurde am letzten Sonntag in Auszügen in der Sonntagszeitung der FAZ veröffentlicht (im Netz ist sie noch leicht zu finden) und behandelt ein Metier, das in der Debatte über das deutsche Kino meist an den Katzentisch verbannt wird: die chronisch verweigerte Anerkennung des Beitrags der Drehbuchautoren. Ihren Titel, »Eine Branche in Angststarre«, trägt sie nicht zu Unrecht: Sie gewährt furchterregende Innenansichten in ein Geschäft, in dem Entstehungsprozesse nicht von der Begeisterung über gute Bücher vorangetrieben werden, sondern der vorauseilenden Sorge, ob sie den Fernsehredakteuren auch gefallen könnten. Graf führt den Leser in Entscheidungslabyrinthe, in denen originäre Kreativität verlorenzugehen droht. Wer sich fragt, weshalb sich das deutsche Kino ästhetisch und thematisch nicht mehr aus der Deckung wagt, wird hier eine Vielzahl schlüssiger Antworten finden.

Gerade habe ich die komplette Fassung des Essays gelesen, die in dem Drehbuchalmanach »Scenario 10« im Bertz/Fischer Verlag erschienen ist, der am heutigen Samstag im Filmhaus am Potsdamer Platz vorgestellt wird. Für die Veröffentlichung in der »FAS« ist er überaus geschickt gekürzt worden. Die Fassung ist ein trefflicher Stolperstein für aktuelle Debatten. Allerdings sind Grafs Befunde in der integralen Fassung bisweilen noch schärfer formuliert: Was er über den »Basarhandel«, das Schachern um Szenen, schreibt, ist bezeichnend. Die Initialzündung seiner Überlegungen war die SMS einer befreundeten Autorin, die ihm eines Nachts verzweifelt schrieb »niemand liebt einen mehr für das was man schreibt«.

Die Langfassung erweitert den Radius jedoch noch einmal immens. Graf sammelt Splitter einer nachkriegsdeutschen Drehbuchgeschichte. Sein Unbehagen gegenüber den vom Oberhausener Manifest angestoßenen Verwerfungen, die er als Ende einer funktionierenden Filmindustrie und zunehmende Bürokratisierung der Filmherstelllung namhaft macht, gewinnt an historischem Kontext. Graf geht es nicht um eine Apologie des alten Produzenten- und Verleiherkinos, obwohl er den Instinktreichtum und die Entscheidungsfreude dieser Epoche schon ein wenig vermisst. Das sieht er in der gebotenen Ambivalenz. In dieser Hinsicht ist sein Pamphlet eine empfehlenswerte Ergänzung zur diesjährigen Retrospektive über das »Umbruchsjahr« 1966, die ohnehin dringend nach einer Gegengeschichtsschreibung verlangt. Andererseits liegt mir die Historisierung, in die sich mein Beitrag nun gerade bewegt, durchaus schwer im Magen. Zumal angesichts der Entdeckung, dass es im diesjährigen Forumsprogramm einige Dokumentarfilme über Freischärler des deutschen Autorenfilms (Rudolf Thome, Klaus Lemke und andere) zu sehen gibt, aber keine Filme von ihnen selbst. Alexander Kluge prägte einmal das tolle Wort vom Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Aber vielleicht hat das deutsche Kino die Vergangenheit noch mehr zu fürchten.

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