Kritik zu I, Anna

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Barnaby Southcombe, der Sohn von Charlotte Rampling, inszeniert mit seiner Mutter in der Hauptrolle eine nach London verlegte Adaption von Elsa Lewins Roman »Solo für Klarinette« als stimmungsvollen Neo-Noir

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Es ist nur eine kurze, alltägliche Begegnung. Doch sie wird Bernie Reid (Gabriel Byrne) keine Ruhe mehr lassen. Nach einer schlaflosen Nacht ist er in den frühen Morgenstunden als Erster auf dem Weg zu einem Tatort. In der Lobby des Barbican, dieses megalomanischen Wohnkomplexes inmitten Londons, trifft der melancholische Polizist auf eine ebenso elegante wie rätselhafte Frau in den besten Jahren (Charlotte Rampling). Sie war schon unterwegs zu ihrem Auto und kehrtdann noch einmal gedankenverloren um. Im Fahrstuhl entdeckt sie einen stehen gebliebenen Regenschirm und nimmt ihn an sich.

Bernie Reid beobachtet das mit irritierender Faszination. Wie hypnotisiert steht er da und kann seine Augen nicht von der Fremden lassen. Vielleicht ahnt er, dass diese Frau etwas mit dem Mord in einem der Apartments zu tun hat. Aber dieser Gedanke blitzt, wenn überhaupt, nur für einen Bruchteil einer Sekunde in seinem ruhelosen Hirn auf. Eine so tiefe wie unerklärliche Verbundenheit verdrängt ihn sofort wieder. Später wird er sich auf die Suche nach der enigmatischen Schönen machen und sie unter falschem Namen bei einem Speed-Dating-Event ansprechen. Die Wege zweier Einsamer kreuzen sich, und danach ist nichts mehr wie zuvor. Schon in den 1940er Jahren war der Film noir eher eine Stimmung als ein Genre. Einsamkeit, existenzielle Leere und unbändige Sehnsucht, tiefe Schatten und grelles Licht, die Zeit war aus den Fugen und die Welt in Unordnung. Jedes einzelne Bild schrie die Verunsicherung einer ganzen Epoche heraus. Stil war erst einmal eine Frage der Atmosphäre und erst in zweiter Linie Ausdruck einer Handschrift. Das sollte sich gut 30 Jahre später mit dem Aufkommen des Neo-Noir ändern. Wie diese neuen, in Farbe gedrehten Filme der 70er bis 90er Jahre greift auch Barnaby Southcombes erster Kinofilm die klassischen Motive und Konstellationen auf. Allerdings ist die von seiner Mutter Charlotte Rampling gespielte Femme fatale mehr als nur ein paar Jahre älter als die gefährlichen Schönheiten der »Schwarzen Serie«. Und Gabriel Byrnes Bernie Reid wirkt noch isolierter und verlorener als alle Polizisten und Privatdetektive jener goldenen Kinoära. Aus den einsamen Nachtgestalten, die unbeirrbar ihrem Verhängnis entgegenzogen, ist ein durch das Leben taumelnder Somnambuler geworden.

Die Zeiten haben sich geändert. So kann Barnaby Southcombe die Traditionen und die stilistischen Eigenheiten des Neo-Noir einfach hinter sich lassen und direkt an die Filme der 40er Jahre anschließen. Und wie einst deren.Regisseure interessiert auch er sich kaum für.,Logik und Dramaturgie. Je weiter sich Anna , und Bernie in ihrer Einsamkeit verlieren, desto unübersichtlicher wird ihre Geschichte. Aber die ist sowieso nur ein Konstrukt, das Southcombe als Ausgangspunkt für atmosphärische Miniaturen nutzt. So ist I, Anna immer dann ganz bei sich, wenn er sich in den Gesichtern von Charlotte Rampling und Gabriel Byrne verliert und sich begleitet von den herzzerreißend traurigen Songs Richard Hawleys einfach durch die Straßen und Wohnungen Londons, dieser Metropole der Vereinsamung, treiben lässt.

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