Ein Schlussstein

An der Seite war eine falsche Hausnummer vermerkt, aber dennoch traf der Stein ohne Probleme und Verzögerung an seinem Bestimmungsort ein. Allerdings entspann sich eine kurze Diskussion darüber, wo genau er seinen Platz finden sollte. Ja, direkt vor dem Eingang, aber nicht zu nahe an der Hauswand, sondern am besten in der Mitte des Gehwegs.

An letzten Freitagmorgen wurden in Berliner Stadtteil Schöneberg insgesamt elf solcher Steine verlegt. Aber keiner weckte wahrscheinlich ein solches Interesse wie der erste, der um 9 Uhr vor dem Eingang zur Innsbrucker Straße 55 (und nicht 53) angebracht werden sollte. Schon zehn Minuten vorher hatte sich eine beachtliche Menschenmenge auf dem Trottoir versammelt. Bald zählte ich rund 50 Leute sehr unterschiedlichen Alters. Einige unter ihnen führte eine persönliche, eine Familienangelegenheit hierher. Andere kamen in offiziellem Auftrag, grüßten bekannte Gesichter. Den meisten von uns war wohl keiner der übrigen Anwesenden bekannt. Wir grüßten einander, in dem wir dem Blick des Anderen nicht auswichen oder ihn zuweilen gar mit einem sachten Lächeln erwiderten. Was verband uns? Eine respektvolle Schaulust vielleicht. Es wurden viele Kameras gezückt, auch Filmaufnahmen entstanden. Es war ein Regisseur unter uns, der heute jedoch keine Anweisungen geben musste. Die allgemeine Aufmerksamkeit war konzentriert genug. Sie galt einer Abwesenden, an deren Schicksal von diesem Tag an ein Stolperstein erinnern würde: Susanne Lehmann.

Über den Namen, den der Künstler Gunter Demnig seinem Projekt gegeben hat, wundere ich mich immer noch ein wenig. Natürlich besitzt er seine seine metaphorische Richtigkeit. Aber zum Stolpern bringen seine Gedenksteine den Passanten nicht, sondern zum Innehalten. Seit vor einigen Jahren vor unserem Haus die ersten verlegt wurden, ergeht es mir ähnlich wie vielen meiner Nachbarn: Ich spüre eine unwillkürliche Hemmung, auf die Messingtafeln zu treten. In der Regel mache ich einen kleinen Bogen um sie oder einen größeren Schritt. Die Verlegung ging bei uns ohne Zeremonie und Menschenmenge vonstatten. Ich erinnere mich jedenfalls nur an ein Paar, das frohgemut diese Arbeit verrichtete. Dass die Legung des Gedenksteins für Susanne Lehmann solch großes Interesse auf sich zog, liegt nicht daran, dass sie etwa eine bedeutende Künstlerin, Wissenschaftlerin oder Politikerin gewesen wäre. Wichtig war der Akt den Versammelten trotzdem, denn er hat ein bemerkenswertes filmisches Vorspiel: Vor zwei Jahren kam die Dokumentation „Die Wohnung“ in unsere Kinos, die ihr Urenkel Arnon Goldfinger drehte.

Wer einen Antrag auf die Verlegung eines Stolpersteins stellt, wird gebeten, die Familiengeschichte der zu ehrenden Person möglichst umfassend zu recherchieren. Diese Bedingung hat Goldfinger bewundernswert lückenlos erfüllt. Im Film sichtet er den Nachlass seiner verstorbenen Großmutter Gerda Tuchler und fördert dabei ein verborgenes Kapitel seiner Familiengeschichte zu Tage. Er rekonstruiert die Chronik einer unerhörten deutsch-israelischen Freundschaft. Seine filmische Recherche, die anzuschauen ich Ihnen sehr ans Herz lege, habe nun nach sieben Jahren ihren Schlusspunkt gefunden, sagte er am Freitagmorgen. Er las den letzten Brief vor, den „Susi“ von dieser Adresse aus an ihre Tochter Gerda schrieb, bevor sie 1942 von den Nazis nach Riga deportiert wurde. Der Zensur hatte es damals nicht genügt, eine Passage daraus einfach zu schwärzen. Sie musste herausgeschnitten werden. Der Regisseur reichte danach Abzüge von alten Fotos weiter, die Auskunft geben von dem Leben, an das erinnert wurde.

Seine Mutter Hannah stand neben ihm, ohne selbst das Wort zu ergreifen. Im Film war sie mir nicht sehr sympathisch gewesen; zu entschieden drängte sie darauf, dass der Hausrat ihrer Mutter komplett entsorgt würde. Nun berührte mich die stille, wenngleich auffällige Präsenz der aparten rothaarigen Dame sehr. Das Schweigen, sagte ihr Sohn, war für meine Familie ein Überlebensmechanismus. Ich schämte mich etwas der Anmaßung, die mich in meiner damaligen Kritik von Verdrängung schreiben ließ (http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/beklemmende-komplizenschaft). Der kleinen Feierstunde fehlte alles Offiziöse, es musste keine Ergriffenheit demonstriert werden. Sie beschlich uns auf eine selbstverständliche, fast heiteree Weise. Niemand musste sich in diesen Minuten wichtig fühlen. Nicht nur die Angehörigen, auch einige der Interessierten hatten weiße Rosen und Maiglöckchen mitgebracht, eine junge Frau neben mir zudem einen Kieselstein, um sie neben der Messingtafel niederzulegen. Am Ende sprach Arnon Goldfinger einen Kaddisch für seine Urgroßmutter. Nach jüdischem Ritual, erläuterte er, müssen dafür zehn erwachsene Juden zugegen sein. Ein Lachen ging durch die Menge. Ja, es waren genug da, um diese Bedingung zu erfüllen.

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