West Side Story: Eine amerikanische Tragödie

»West Side Story« (2021). © Walt Disney

»West Side Story« (2021). © Walt Disney

Leonard Bernsteins »West Side Story«, die Geschichte von Liebenden, die verschiedenen ethnischen Communities angehören, hat sich gut gehalten, meint Georg Seeßlen: als Auseinandersetzung mit Rassismus und sozialer Ungleichheit. Zum Start von Steven Spielbergs Neuverfilmung des Stoffs: ein Rückblick auf den Filmmusical-Klassiker von 1961

Die Vereinigten Staaten von Amerika basieren auf zwei konträren Erzählungen. Die eine ist die vom großen Schmelztiegel, von einer Nation, die aus Elementen und Impulsen aus allen Weltgegenden entsteht, die ein neues Land mit einer neuen Art von Mensch, dem Amerikaner, füllen. Die zweite Erzählung lässt sich mit den Worten von Frank Wilderson, einem wichtigen Vertreter des »Afropessimismus« zusammenfassen: Es war nicht die amerikanische Gesellschaft, die den Rassismus hervorbrachte, es war der Rassismus, der die amerikanische Gesellschaft hervorbrachte. So erklärt sich vielleicht ein ständiges Ineinander von Zukunftshoffnung und Verzweiflung, es erklärt sich eine überwältigende Produktion von populärer Mythologie, von Western, Jazz, Comics und Krimis, von Hollywood und von Musicals: all dies, um den unerträglichen Widerspruch von Schmelztiegel-Utopie und rassistischer Struktur zu bearbeiten, meistens um ihn doch irgendwie erträglich zu machen, manchmal auch um seine Unerträglichkeit sichtbar zu machen.

Der Rassismus in dieser Nation der Immigranten wurde nach der Abschaffung der Sklaverei von der offenen äußeren zur verdeckten inneren Struktur; er organisierte sich in kulturellen Abschottungen und Appropriationen, in ökonomischen Hierarchien und territorial. Stadtviertel und Nachbarschaften wuchsen in ethnischen Differenzierungen: Harlem, Chinatown, die rein weißen Vorstädte – Pa­rallelwelten, deren Betreten für die jeweils anderen seltsam, wenn nicht gefährlich war (und ist). Und die gefährlichsten Orte sind die umkämpften Ränder, die imaginären Grenzen zwischen Ethnien, die fast immer zugleich die Grenzen zwischen sozialen Klassen sind. Oft aber dienen die ethnischen Konflikte auch zum Übertünchen der sozialen Widersprüche, Verlierer werden gegen andere Verlierer aufgehetzt. Wie das alles immer wieder nach oben kocht, war in der Trump-Ära zu beobachten, in der man hier einen Schritt vorwärts in der Bewegung der Bürgerrechte und der medialen Repräsentationen machte und dort zwei Schritte zurück im racial profiling, im Zulauf rassistischer Organisationen und in der Alltagsgewalt. Leonard Bernsteins Musical »West Side Story«, gut sechzig Jahre alt, erzählt exemplarisch  vom Konflikt zwischen »einheimischen« und aus Puerto Rico zugewanderten Jugendlichen. Und es hat eine beklemmende Aktualität, vor allem dort, wo hinter der tragischen Romanze bittere Satire und Figuren wie der Cop Lieutenant Shrank zum Vorschein kommen, der heute vermutlich Verbindungsmann zwischen Trump-Anhängern und dem Ku Klux Klan wäre.

Die amerikanische Tragödie entsteht, wo sich die Schmelztiegel-Utopie an der rassistischen Struktur bricht. Nur als Mythos, Kunst oder Entertainment ist der Widerspruch aufzuheben, und so wurde »West Side Story« zu einer der bleibenden Widerspiegelungen in der populären Kultur, zu denen man immer wieder zurückkehrt. Einzelne Songs begannen ein Eigenleben, auch jenseits von Hits wie »Maria« oder »America«. Nur zum Beispiel lieferte die Band Yellow Dog 1978 eine Rockversion von »Gee, Officer Krupke«, arrangiert von Kenny Young (der eigentlich  Shalom Giskan heißt und unter anderem Hits wie »Under the Boardwalk« schrieb), der den Song beinahe als Punk-Urknall hören lässt.

Die erste Idee zur ursprünglich nach der East Side benannten Story war nicht einmal sonderlich originell: eine moderne amerikanische »Romeo und Julia«-Geschichte. Die war freilich schon bei Shakespeare nicht bloß eine Variante der universalen Geschichte von der Liebe gegen alle äußeren Widerstände, sondern eine recht genaue Analyse von – maskulinen – Ritualen der Zugehörigkeit und der gewaltsamen Konkurrenz. Und weiter im Inneren der Geschichte steckt ein Konflikt zwischen dem christlichen Menschenbild und der dynastischen Konstruktion weltlicher Herrschaft. Mit einem Wort: »Romeo und Julia« ist auch eine politische Geschichte, zu verstehen als konkretes Zeitbild.

Leonard Bernstein und Jerome Robbins wendeten gerade diesen Aspekt der Geschichte auf die soziale Situation ihrer Stadt New York an. Schon die Ouvertüre erscheint wie ein programmatisches Bild einer unruhigen, gewalttätigen Stadt, in die eine beunruhigende Vielstimmigkeit greift, wie man sie heute collagiert in Rap- und Hip-Hop-Stücken hört. Wobei der Film bereits die Zumutungen des Originals abzumildern beginnt.

Der berühmte »West Side Story«-Film aus dem Jahr 1961 ist keine typische Hollywood-Adaption, wie man sie etwa von Fred-Astaire- oder Gene-Kelly-Produktionen gewohnt ist. Es handelt sich nicht um den Versuch, die Kunstwelt des Musicals in die Realität zu verlängern, sondern viel eher darum, die Realität in die Kunstwelt des Musicals einzubeziehen. Alle Dekoration bleibt Bühne, alle Handlung Performance. Als Regisseure werden Robert Wise und Jerome Robbins genannt: ein Regisseur, der durch Filme von härterer Art (»The Day the Earth Stood Still«, »I Want to Live«) bekannt geworden und mit dem Genre noch wenig vertraut war, dem er vier Jahre später mit »The Sound of Music« einen weiteren Meilenstein bescherte, diesmal vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus; und ein Choreograph, der unter vielem anderen eine Körperbewegungs-Inszenierung zu Bachs Goldberg-Variationen riskierte. Schon in diesen beiden begegnen sich Zeitbild und Kunstwelt – nicht konfliktfrei, aber solidarisch. 

Zusammen mit George Gershwins Oper »Porgy and Bess« (die immer wieder auch als Musical bezeichnet wird) in der Verfilmung von Otto Preminger und »The Sound of Music« bildet »West Side Story« die Grundlage für einen modernen Musikfilm, der (lange vor der Ver-Andrew-Lloyd-Webberung des Genres) historische und soziale Konflikte nicht scheut und dabei ganz direkt Elemente von Abstraktion und Stilisierung aufnimmt. Dazu gehört allerdings auch die Trennung von Gesang und Schauspiel. Nur der vielseitige Sammy Davis jr. konnte in »Porgy and Bess« selbst den Gesangspart des Sportin' Life übernehmen. Die Stimme von Natalie Wood in »West Side Story« war Marni Nixon, aber sie wird in den meisten Filmografien so wenig angeführt wie die Singstimmen der anderen Darsteller. »Somewhere« immerhin bringt es in der Version von Jimmy Bryant (für Woods Ko-Star Richard Beymer) und Marni Nixon auf Platz 20 der »100 Years … 100 Songs«-Liste des American Film Institute (AFI), noch vor den realen Stimmen des Songs »America« (George Chakiris, Rita Moreno und der Chor). Marni Nixon sang übrigens auch für Audrey Hepburn (»My Fair Lady«) und Deborah Kerr (»The King and I«). 

Die »West Side Story« hat Elemente des Musicals, aber auch der Oper. Es gibt Hits wie »Maria« oder »Somewhere«, die eher Arien sind, und es gibt Musicalnummern wie »America«, die nach einer rasanten Bühnen-Performance verlangen und sich fast körperlich in den Zuhörer, die Zuhörerin hineinfressen. »West Side Story« ist eine Tragödie, keine Musical Comedy – so der Ursprungsbegriff, der zum schlichten Musical verkürzt wurde –, also auch in dieser Hinsicht ein Übergangswerk. Man bewegt sich musikalisch in einem Dreieck aus europäischer Kunstmusik, amerikanischem Jazz und lateinamerikanischen Huapango-Rhythmen. Das kracht an allen Ecken und Enden, zwischen Kontrapunkt, Synkopen und Polyrhythmen. Und genau darum geht es: die ständige Suche nach Verschmelzung und das ständige Auseinanderbrechen. Easy Listening ist das nicht, dafür ist musikalisch immer was los in der »West Side Story«. 

Bis zu einem gewissen Grad nimmt der Film von Robert Wise diesen Übergang in seine Bildsprache auf. Statische Einstellungen mit dem Blick auf arienhafte Selbsterklärungen der Protagonisten wechseln mit dynamischeren ab, die Interaktionen als Action vermitteln. Weder das Bühnenbild noch die Choreografie sind besonders kinematografisch – wenn man sie etwa mit einem Gene-Kelly-Musical vergleicht –, wohl aber die Montage von beidem. Dadurch entsteht diese Gewissheit: Der Raum ist nicht nur eng, weil er eine gebaute Bühne ist, sondern weil er dem Lebensgefühl der Protagonisten entspricht, in eine Sackgasse geraten zu sein. Und weil die Figuren isoliert sind, alleingelassen von einer Gesellschaft, die einfach für sie nicht vorhanden ist, es sei denn in Form eines Polizeistreifenwagens oder eines alten Ladenbesitzers, der es nicht schafft, ihre Gewaltriten zu durchbrechen. 

Es beginnt damit, dass die Ouvertüre, zu farblich changierenden Strichzeichnungen – ein typischer Saul-Bass-Vorspann –, doch etwas einschmeichelnder ausfällt als die originale Bühnenversion. Dann öffnet sich der Raum, wir sehen den Titel und dass es sich bei den vertikalen Strichen um die Umrisse der Hochhäuser von Manhattan handelt. Die Brücke von weit oben, das Grundrauschen eines Fluges, sachte Pfeiftöne und erste Percussion-Einwürfe. Lange geht dieser Flug. Dann senken wir uns hinab auf einen der typischen Basketball-Plätze inmitten der Stadt, und es beginnt schon der erste Song mit Fingerschnippen als rhythmische Verbindung der Körper und der Musik.

Eine Jugendgang markiert ihr Territorium. Der Weg der Jungen, bei aller gespannten Aggression, führt um ein spinnwebähnliches Muster, das ein kleines Mädchen auf das Pflaster gekreidet hat. Das zeigt, dass diese »Jets« – so wenig wie ihre Konkurrenten, die »Sharks« – keine Unholde sind.

Man betont, wer hier das Sagen hat, niemand darf den Ball spielen, wenn ein Jet ihn für sich beansprucht. So tanzen sie die Straße entlang, und plötzlich steht einer von den anderen, den Sharks, vor ihnen. Auch die Sharks sammeln sich im Fingerschnippen, die gegenseitige Drohung ist offenbar. Die ersten Kämpfe finden statt. Die Keilerei wird durch die Polizei unterbrochen. Nun wird der Held Tony eingeführt, der die Jets verlassen hat, um einer schlecht bezahlten geregelten Arbeit und bürgerlichen Träumen nachzugehen. Er trägt, auch das eines der vielen bedeutungsvollen Nebenhers, Coca-Cola-Kisten in den Keller des Drugstores.

Blickwechsel in die Welt der Frauen aus Puerto Rico, die als Näherinnen arbeiten. Für die junge Maria entsteht nebenbei ein Kleid für den Tanz am Abend. Für sie soll an diesem Tag ein völlig neues Leben anfangen, als »junge Amerikanerin«. In einer »psychedelischen« Überblendung sehen wir sie tanzen und gelangen in den Ballsaal, wo aus dem Traum der Verschmelzung rasch wieder die Wirklichkeit des Konflikts entsteht.

Die Choreographie von Jerome Robbins macht im Gegensatz zum Vorschlag der Musik deutlich, worum es hier geht: dass keine Harmonie, keine Einheit entstehen kann. Beim Tanzen kommt man sich beständig in die Quere, Ansprüche werden infrage gestellt oder verteidigt, Rangordnungen gesichert, es kommt immer wieder zu Unterbrechungen. In West Side Story geht es um drei Konflikte gleichzeitig, den Konflikt zwischen alteingesessenen weißen Amerikanern und puertoricanischen Zuwanderern, den Konflikt des alten Amerika – vertreten durch den bösartigen Polizisten und den gutmütigen Drugstore-Betreiber Doc – mit »seiner« Jugend. Und schließlich den Konflikt zwischen Frauen und Männern. Es ist die Tragödie in West Side Story, dass alle drei Konflikte ihr Todesopfer fordern. 

Die Begegnung von Maria und Tony ist dann wieder ganz Kinoeffekt; während alles verschwimmt, sehen sich die beiden so klar und deutlich, wie es eben nur Liebende tun. Sie werden natürlich unterbrochen, dann wird Kriegsrat gehalten, und das alles unter den Augen des eher ratlosen als bösartigen Officer Krupke. Wir leben jetzt in Amerika, sagen die Frauen, »everythingʼs free in America«,  und die Antwort der Männer ist: Puerto Rico ist jetzt auch in Amerika. Man kommt als Fremder und bleibt ein Fremder.  

Der Travestie von Shakespeares Balkonszene auf der Feuerleiter folgen Einblicke in die Gangs. Da gibt es zwei bemerkenswerte Nebenfiguren, die die Konstruktion von Männerbund und Frauenwelt infrage stellen, das Tomboy Girl mit dem Spitznamen Anybody, das alles daransetzt, als vollwertiges Mitglied in der Jungsgang angenommen zu werden, und Baby John, einen Jungen, der viel zu sensibel und weich für einen jugendlichen Gangster ist. Beide spielen ihre Rolle des Dazwischen an Kehrtwenden der Handlung. Das Lied »Gee, Officer Krupke« und die dazugehörige Inszenierung machen sich über die Tendenz lustig, jugendliche Delinquenten als Opfer familiärer Umfelder zu psychologisieren. Hinter dem Vorhang des Melodrams schaut man in »West Side Story« in manche Abgründe. So ist Shrank, der eindeutig rassistische und antidemokratische Polizist, zwar auf der Seite der »Einheimischen«, aber wenn sie nicht parieren, beschimpft er auch die weißen Jungs als »Einwandererpack«, und er provoziert die Jets, indem er die Eltern Säufer und Huren nennt. 

Tony will auf Marias Bitte hin den Zweikampf verhindern, der anstelle eines Bandenkriegs über die Hegemonie im Viertel entscheiden soll. Doch dies eben ist der Geist der Tragödie, dass gerade der Versuch, sie zu verhindern, die Katastrophe auslöst. Statt der Fäuste kommen Messer ins Spiel, das fordert den ersten Toten, Riff, den Anführer der Jets. Dann wird Tony als »verdammter Pollack« beschimpft und verliert jede Beherrschung. Das zweite Todesopfer ist     Bernardo, der Anführer der Sharks. Bevor sich Tony der Polizei stellen will, bittet er Maria um Verzeihung, ein kurzer Traum von gemeinsamer Flucht, es folgen Verrat und Rache, Tony selbst ist das dritte Todesopfer der West Side Story. »Ihr macht aus dieser Welt einen Saustall«, hat Doc den Jungen entgegengehalten. »Wir haben sie nicht erschaffen«, ist ihre Antwort gewesen. Die Ausweglosigkeit der Tragödie deckt sich in »West Side Story« mit der Ausweglosigkeit des Ghettos. 

Viele der Beteiligten an diesem Projekt stammen aus jüdischen Familien, von Bernstein über den Librettoverfasser Arthur Laurents, den Songtexter Stephen Sondheim und den Drehbuchautor Ernest Lehman bis zu Jerome Robbins (Jerome Wilson Rabinowitz). Andere hatten, was man heute einen Migrationshintergrund nennt. Natalie Wood wurde mit dem Namen Natalia Nikolaevna Zakharenko geboren; Richard Beymer machte sich als Aktivist und Filmemacher der Bürgerrechtsbewegung in Hollywood unbeliebt. George Chakiris war Sohn griechischer Einwanderer, Ned Glass wurde in Polen geboren, Rita Moreno als Rosita Dolores Alverio in Humacao auf Puerto Rico. Sie erhielt für ihre Rolle als Marias beste Freundin und tragische Verleumderin als erste hispanische Schauspielerin einen Oscar und wurde dafür von Hollywood mit gnadenlosem Klischee-Casting bestraft. Sie alle hatten Entscheidungen wie die Anglisierung des Namens und Entfremdungsgeschichten hinter sich. Sie alle wussten, was es heißt, Teil einer Gesellschaft zu sein, die einen nicht vollständig aufzunehmen bereit ist.Könnten also das Musical und der Film als Matrix für eine zugänglich moderne Variante der postmigrantischen Kultur gelten? Die Revitalisierung oder Revision dieses Ereignisses durch Steven Spielberg macht die Frage spannend, nachdem der Erfolg von »La La Land« belegt hat, dass das Filmmusical nicht so mausetot ist wie sein Ruf. Robert Wise bringt den Glamour und die Kunst des Musicals zur Straßenrealität. Steven Spielberg, so scheint es, macht es genau umgekehrt: Er bringt die straßenrealistische Story zurück in (s)eine Traumwelt. Alle seine (durchaus ehrbaren) Versuche, bitterer historischer Wahrheit zu begegnen, zeigten, dass Spielberg zu vielem fähig ist, aber nicht zur Radikalität der Tragödie.

Bernstein und seine Mitarbeiter hatten keinen Ausweg und keine Hoffnung zu bieten; es ist ein fatalistisches, in manchen Belangen verzweifeltes Stück. Die Opfer sind unerbittlich zu erbringen, und das ist nicht nur der Vorlage von Shakespeare zu verdanken. Bernstein zitiert Tschaikowskis »Schwanensee« in »Somewhere«, das schon alle Vergeblichkeit enthält, trotz des Aufbäumens des Lebenswillens und der Liebe, exakt zu dem Traumbild im Song: »Peace and quiet and open air«. Ein Musical, in dem all das verweigert wird, ist ein Unding. Oder ein Glücksfall – wie man es nimmt.

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