SABU: Die Poesie des Zufalls

Sabu am Set von »Chesuke's Journey« (2015)

Sabu (r.) am Set von »Chesuke's Journey« (2015)

Der japanische Regisseur Sabu erzählt ­in seinen Filmen von Gangstern, Killern, Gelegenheits­kriminellen. Und entwickelt ein sehr eigenwilliges Genrekino mit Gespür für die Verwerfungen der zeitgenössischen Gesellschaft, für moderne Ausbeutungsverhältnisse. Und manchmal scheint sogar etwas Utopisches auf – wie in seinem neuen Film »Mr. Long«. Sascha Westphal über die schrecklich schöne Unberechenbarkeit des Sabu-Universums

Yasuda rennt. Ihm bleibt auch nichts anderes übrig. Eigentlich wollte der glücklose und von allen immer nur gedemütigte Angestellte eine Bank ausrauben. Aber dazu ist es gar nicht erst gekommen. Bei dem Versuch, in einem kleinen Laden eine Gesichtsmaske zu stehlen, ist er mit Aizawa, der dort hinter der Kasse steht, aneinandergeraten. Ein Schuss hat sich gelöst. Nun ist Yasuda auf der Flucht.

Aizawa rennt, auch wenn er das gar nicht müsste. Yasudas Kugel hat den drogensüchtigen Gelegenheitsmusiker nur oberflächlich verletzt. Aber die Drogen, die er sich gerade gespritzt hatte, und das Adrenalin verwandeln ihn in einen Besessenen. Mit der Waffe, die Yasuda verloren hat, in der Hand, läuft er hinter dem Dieb her und stößt dabei mit Takeda zusammen, dem er noch Geld schuldet. Nun ist auch Aizawa auf der Flucht.

Takeda rennt. Er kann nicht anders. Für ihn, den kleinen Yakuza-Gangster, geht es um seine Ehre und damit auch um sein Leben. Eigentlich müsste er, der nur mit angesehen hat, wie sein Boss ermordet wurde, Selbstmord begehen, Seppuku. Doch dann läuft ihm Aizawa über den Weg. Wenn er an dem Süchtigen, der seine Drogen nicht bezahlt hat, ein Exempel statuiert, könnte er sich als Yakuza neu beweisen. Also jagt er Aizawa, der wiederum Yasuda jagt.

Auf den ersten Blick erzählt der 1964 in Wakayama geborene Schauspieler und Filmemacher Hiroyuki Tanaka, der sich selbst Sabu nennt, in seinem Regiedebüt »Wie eine Kugel im Lauf« (Dangan Runner) eine klassische Genregeschichte. Yasuda, Aizawa und Takeda laufen wie schon so viele Helden des Actionkinos und des Film noir einfach um ihr Leben. In der Regel bliebe es dabei. Nach einer letzten großen Schießerei stünde vielleicht noch einer der drei Männer, vielleicht aber auch keiner mehr. Das hängt vor allem vom jeweiligen Zeitgeist und ein wenig von den Überzeugungen des Regisseurs ab.

Sabu verschließt sich dieser im japanischen wie im amerikanischen Kino vorherrschenden Tradition letztlich nicht. Aber er unterläuft sie. Den großen Showdown gibt es auch in seinem Erstling. Allerdings ist er nur mehr ein absurder Zufall. Der Weg ist das Ziel, heißt es. Und für Yasuda, Aizawa und Takeda gilt das auf jeden Fall. Im Laufen erleben sie eine Art säkularer Epiphanie. Sie finden die Klarheit, die ihnen zuvor fehlte. Die ständige Bewegung, das Rennen um des Rennens willen, befreit sie von allem anderen. Allerdings führt es sie auch in die Arme zweier rivalisierender Yakuza-Gangs und in einen irrwitzigen Stand-off, wie man ihn so zuvor und auch seither nicht gesehen hat.

Zwei Jahre vor Tom Tykwer, mit dessen »Lola rennt« dieser Lauf durch Tokio immer wieder in einem Atemzug genannt wird, hat Sabu 1996 vielleicht den Film gedreht, der das ­Kino jenes Jahrzehnts klarer und umfassender spiegelt als jeder andere. Natürlich hat Tykwers Ode an den Rausch purer Bewegung mehr Aufsehen als »Wie eine Kugel im Lauf« erregt, und das keineswegs nur in Deutschland. Und natürlich haben Quentin Tarantinos postmoderne Genredekonstruktionen, in denen Viele Vorbilder für Sabus satirische Yakuza-Erzählungen sehen, einen weitaus größeren Einfluss auf die Filmgeschichte und die Popkultur gehabt. Auch »Das rote Eichhörnchen«, »Tierra« und vor allem »Die Liebenden des Polarkreises«, Julio Médems inzwischen ein wenig in Vergessenheit ­geratene Spiele von Liebe und Zufall, ­waren damals viel bekannter als Sabus Debüt. Dabei ist es der japanische Filmemacher, der die Ideen und Obsessionen dieser drei Regisseure wie durch ein Brennglas bündelt.

Wie Tarantino unterzieht Sabu das Bild, das sich das Kino über Jahre und Jahrzehnte hinweg von Gangstern und Killern gemacht hat, einer radikalen Revision. Er geht sogar noch weiter als der »Pulp Fiction«-Auteur. Sabus Yakuza haben nichts Heroisches mehr an sich. Sie sind nicht einmal mehr cool. Selbst ihre innere Versehrtheit, der andere zeitgenössische japanische Regisseure wie Takeshi Kitano und Takashi Miike meist noch eine tragische Dimension verleihen, teilen sie mit allen anderen ausgebeuteten Angestellten. Auch sie sind nur salary men, die von ihren Bossen verheizt und verachtet werden. Erst in dem Moment, in dem sie wie Takedas Freund und Mentor ins Zweifeln geraten oder wie der sterbende Yakuza in »Blessing Bell« (2002) die Sinnlosigkeit ihrer Entscheidungen umarmen, bekommen Sabus Gangster menschliche Züge. All die aufrechten Gang-Soldaten, die sich am Ende von »Wie eine Kugel im Lauf« gegenseitig über den Haufen schießen, bleiben Cartoon-Figuren und illustrieren so das zerstörerische Element der japanischen Gesellschaft.

Das mag zunächst zynisch klingen, wie auch Sabus Hang zu ab­strusen Verkettungen von Missgeschicken und Zufällen, an deren Ende nicht selten Unbeteiligte ihr Leben lassen. Aber anders als Tykwer und Médem, die sich in ihren aberwitzigen Plot-Konstruktionen des Zufalls zumindest gelegentlich mit einer an Grausamkeit grenzenden Kälte bedienen, setzt Sabu das Arbiträre des menschlichen Lebens mit einem fast naiven Staunen in Szene. Wenn der von drei Bankräubern entführte Bote Asakura in »Drive« (2002) in einem Restaurant eine Kettenreaktion in Gang setzt und so unbeabsichtigt einen skrupellosen Erpresser außer Gefecht setzt, denkt man sofort an eine Reihe von Dominosteinen, die nacheinander in perfekter Harmonie umfallen.

Aber die formale Brillanz dieser Szene verdeckt nicht einen Wimpernschlag lang das Unfassbare der Situation. Es muss so kommen, wie es kommt, und doch scheint selbst Sabu es nicht glauben zu können. Es ist, als würde eine fremde Macht, nennen wir sie der Einfachheit halber Schicksal, die Menschen verhöhnen. Sie können sich noch so sehr bemühen, am Ende entscheidet der Zufall über alles. Mal schenkt er ihnen wie in »Wie eine Kugel im Lauf« auf höchst seltsamen Wegen Erlösung. Mal macht er sie wie den Möchtegern-Bankräuber Yamazaki in »Unlucky Monkey« (1998) erst zu Gewinnern und dann zu Mördern. Wie Yasuda, Aizawa und Takeda oder auch der ahnungslose Postbote Ryuichi Sawaki in »Postman Blues« (1997), der wie Takeda und Yamazaki von Shin’ichi Tsutsumi verkörpert wird, ist der »glücklose Affe« einer, dem fortwährend übel mitgespielt wird. Jeder Versuch, sein Leben selbst zu bestimmen, ist zum Scheitern verurteilt. Allerdings wandelt er anders als die Protagonisten aus Sabus ersten beiden Regiearbeiten nicht auf den Spuren der großen amerikanischen Stummfilmkomiker. Yamazaki ist kein Erbe Buster Keatons. Er scheint sich eher aus einem Dostojewski-Roman in ein zwischen Tradition und Moderne heillos zerrissenes Japan verirrt zu haben.

Die Jahre um den Jahrtausendwechsel herum waren eine enorm produktive Zeit für Sabu. Neun Spielfilme und einen Kurzfilm hat er in dieser Phase realisiert. Die meisten davon waren geschickte Variationen auf sein Debüt. Was 1996 mit »Wie eine Kugel im Lauf« begann, erreichte seinen vorläufigen Endpunkt 2005 mit »Hold Up Down« und gelangte noch im selben Jahr mit Shissô – »Dead Run«, dem ersten deutlichen Bruch mit den bis dahin allgegenwärtigen Kon­stanten seines filmischen Universums, an einen Wendepunkt. An die Stelle der alles andere strukturierenden Bewegung nach vorne, die immer Flucht und Jagd in einem ist, tritt in dieser Verfilmung eines Romans von Kiyoshi Shigematsu ein eher zielloses Mäandern. Aus der vorwärtsdrängenden Bewegung der früheren Filme wird ein sprunghaftes Hin und Her. Der über die Absurdität der Welt und des Lebens lachende Slapstick-Regisseur weicht dem melancholischen Existentialisten. Der offenbarte sich allerdings auch schon in »Monday« (2000), der in Rückblenden erzählten Chronik eines bizarren Amoklaufs, und in Blessing Bell, in dem ein arbeitslos gewordener Fabrikarbeiter als Nachfahre von Charlie Chaplins Tramp durch Tokio spaziert und Zeuge teils recht märchenhafter Ereignisse wird. Nur kann der von Susumu Terajami gespielte Igarashi, der fast den ganzen Film über kein einziges Wort sagt, am Ende nach Hause zurückkehren und von seinen unglaublichen Abenteuern berichten.

Lange Zeit waren Keaton und Chaplin zwei Pole, zwischen denen sich Sabu bewegt hat. Auf der einen Seite inspirierte ihn der große Strukturalist unter den Filmemachern des US-Stummfilmkinos zu immer autarkeren Formexperimenten, die schließlich in »Hard Luck Hero« gipfelten. Ekkehard Knörer hat diese Geschichte eines Hilfskochs, der wider Willen zum Martial-Arts-Kämpfer wird und durch einen beinahe schon lächerlichen Zufall – er streckt seinen Gegner mit einem einzigen, verstolperten Schlag nieder – ins Visier eines Yakuza-Bosses und seiner Schergen gerät, einmal treffend so beschrieben: »Bewegung ist Narration, Narration Bewegung. Nichts weiter.« Das Erzählte löst sich in der Form der Erzählung auf, so wie sich unsere Leben in den Strukturen des Kapitalismus auflösen. Auf der anderen Seite strebt Sabu aber immer auch nach dem romantischen Pathos und der ungebrochenen Liebe zu den Menschen, die Chaplins Filme erfüllt haben.

In »Kanikôsen« (2009), einer recht freien Adaption von Takiji Kobayashis 1929 erschienenem proletarischen Roman, gesellt sich mit Bertolt Brecht noch ein dritter Erneuerer der 1920er Jahre zu Keaton und Chaplin. Schon in »Wie eine Kugel im Lauf« schwang eine deutliche Kritik an Japans ganz spezieller Form des Kapitalismus mit, in dem der Ausgebeutete seine Ausbeutung noch als eine Art von Ehre empfindet. Die salary men und ihre kriminellen Cousins, die kleinen und mittleren Yakuza-Gangster, sind die Proletarier des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Nur fehlt ihnen das Klassenbewusstsein, das in »Kanikôsen« die fast schon versklavten Krabbenfischer schließlich entwickeln. Die Verfilmung des sozialistischen Romanklassikers ist selbst ein Akt des Aufstands. Sabu bricht mit allen Traditionen, den politischen wie den ästhetischen. Der Film spielt zwar im japanisch-russischen Krieg, aber seine Sets beschwören eine zeitlose Steampunk-Hölle herauf, in der Agitprop-Gesten und absurde Komik ständig ineinanderfließen. Der Glaube an die Revolution ist tot, es lebe der Glaube an die Revolution.

Das atemlose Hasten und Stolpern seiner früheren Arbeiten ist zuletzt einem ganz anderen Rhythmus gewichen. »Happiness« und »Mr. Long«, Sabus neueste Regiearbeiten, feiern auf ihre jeweils ganz eigene Weise die Langsamkeit. Ein Mann namens Kanzaki (Masatoshi Nagase) steigt irgendwo in der japanischen Provinz aus einem Bus und schlendert langsam durch eine Ortschaft, deren Bewohner jede Freude am Leben verloren haben. Eine Zeit lang sieht es so aus, als wäre Kanzaki gekommen, um sie mit seiner Erfindung, einem bizarren Helm, der Erinnerungen an vergessene Glücksmomente freilegen kann, zu retten. Doch der wortkarge Mann hat ein ganz anderes, viel düstereres Ziel. Was wie ein verschrobenes Märchen beginnt, entwickelt sich zu einem finsteren Rachegesang.

So wie die Figuren in »Wie eine Kugel im Lauf«, »Postman Blues«, »Unlucky Monkey«, »Drive«, »Hard Luck Hero« und schließlich »Hold Up Down« kreuz und quer durch die Straßen von Tokyo liefen oder fuhren, so raste der Regisseur durch die Genres: Gangsterfilm, Märchen, Komödie, sogar Musical und Horrorfilmszenarien – alles ist möglich in seinen Filmen, die dem Wahnsinn der Welt ihren eigenen Wahnsinn entgegen­setzen. Auch in »Mr. Long« verschwimmen die Genres. Die Geschichte des taiwanesischen Killers Long (Chen Chang), der bei einem Auftrag in Japan schwer verwundet wird und Zuflucht in einer Gemeinschaft von Außenseitern findet, wird zwar von genretypischen Gewaltexplosionen eingerahmt, die Erinnerungen an die berühmte Actionchoreographie in Park Chan-Wooks »Sympathy for Mr. Vengeance« wecken. Aber dazwischen verbeugt sich Sabu einmal mehr vor Charlie Chaplin und erstmals auch vor einem anderen großen Humanisten des Kinos: Jean Renoir. Die Abgehängten und ­Ausgestoßenen, die sich um Long kümmern und ihm, der ebenso gut kochen wie töten kann, einen Imbisswagen bauen, könnten direkt aus einem von Renoirs Filmen der 1930er Jahre stammen, während die drogensüchtige Prostituierte Lily (Yiti Yao) und ihr Sohn Jun (Runyin Bai) einen von einem Märchen unter den Lichtern der Großstadt träumen lassen. In einer großen Rückblende und einem Exkurs zu den heißen Quellen von Nikko, die in dem schwebenden Rhythmus wundervoller Träume erzählt sind, entwirft Sabu Gegenwelten des Glücks, die schließlich umso brutaler zerstört werden. Dem Zufall kann keiner entkommen und der Grausamkeit der Menschen erst recht nicht. Aber, und das gilt im melancholischen »Mr. Long« ebenso wie einstmals in Sabus ­Kino des Absurden, der Zufall kann auch ein Verbündeter sein. Und so endet ausgerechnet dieser »Killer Blues« auf einer hoffnungsvollen Note.

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