Kritik zu The Most Beautiful Boy in the World
Die Dokumentarfilmer Kristina Lindström und Kristian Petri spüren 50 Jahre später dem Lebensweg von Björn Andrésen nach, der mit der Rolle des Tadzio in Luchino Viscontis Thomas-Mann-Verfilmung »Tod in Venedig« im Alter von 16 Jahren als »schönster Junge der Welt« schlagartig berühmt wurde
Ein langer, düsterer Flur, nur am Ende ist Licht. Auf das geht schemenhaft eine schlaksige Gestalt zu, von der nur die Silhouette zu erkennen ist. Langer Mantel, langes Haar. Dazu ein dräuender Score und vom Band eine Kinderstimme, die erzählt, dass sie Mutter und Vater nicht mehr findet. Dann im Gegenlicht das hagere Gesicht eines alten Mannes mit Vollbart im Halbprofil. »The Most Beautiful Boy in the World« beginnt wie ein Horrorfilm, und in gewisser Hinsicht ist er das auch. Er erzählt von einem unschuldigen Jungen und plötzlichem Ruhm, von Ausbeutung und Abstürzen, von Licht und Schatten.
Vor einem halben Jahrhundert wurde der damals 15-jährige Schwede Björn Andrésen das, was damals gern »über Nacht berühmt« genannt wurde. Im Winter 1969 ist der italienische Regisseur Luchino Visconti in Stockholm, Hunderte Jungen hat er bereits in anderen Ländern gesehen, auf der Suche nach »seinem Tadzio«, einem hübschen Knaben für die Verfilmung von Thomas Manns »Tod in Venedig«. Er findet ihn schließlich in Andrésen: blonde Locken, schlank, androgyn, graue Augen und »kalt wie eine Statue«. Für Visconti ist der Junge wie aus Manns Novelle entsprungen. Später, bei der Weltpremiere des Films im März 1971 in London, erklärt Visconti ihn erstmals medienwirksam zum »schönsten Jungen der Welt«. Auf dem Filmfest in Cannes zwei Monate danach feixt Visconti auf Französisch über den inzwischen 16-Jährigen, nun sei er nicht mehr ganz so hübsch, die Journalisten amüsieren sich, der Junge versteht kein Wort. Ins Rampenlicht katapultiert, steht der Teenager eine Weile im Fokus der globalen Aufmerksamkeit, sein Gesicht wird zur Ikone und ist es geblieben, um Björn Andrésen selbst wird es bald wieder still. Die Dokumentarfilmer Kristina Lindström und Kristian Petri spüren nun, 50 Jahre später, ihm und dem Schatten dieser folgenreichen Zeit Anfang der 1970er nach.
Heute ist Andrésen kaum wiederzuerkennen. Ein stiller, fragil wirkender Mann, gezeichnet von Jahren des Alkoholismus, oft den Tränen nahe, und von der Hilfe anderer abhängig. Lindström und Petri zeigen ihn in seiner vermüllten kleinen Stockholmer Wohnung, aus der er rauszufliegen droht, was seine Freundin gerade noch abwenden kann. Langsam blättert der Film auf, was in den Jahren dazwischen geschah, der Suizid der Mutter in Andrésens früher Kindheit, der dann bei seiner Großmutter aufwuchs, die den Jungen zur Arbeit als Kinderdarsteller drängte. Die Phase des Ruhms, den sie weit mehr genoss als der Junge, der in Japan für kurze Zeit zum Popstar wurde und sogar eine Anime-Reihe inspirierte. Er lebt in Paris und bekommt »Taschengeld« als Begleiter älterer Männer. Zurück in Schweden wird er mit Anfang 30 Vater, der kleine Sohn stirbt im Kindbett, Andrésen gibt sich selbst die Schuld daran, leidet seitdem an Depressionen. Erst mit einer kleinen Rolle in Ari Asters Horrorfilm »Midsommar« 2019 kehrt er für einen kurzen Moment auf die Leinwand zurück. Wovon er lebt, bleibt im Vagen.
So spannend, relevant und aktuell das Thema Ausbeutung und Machtmissbrauch auch in der Filmbranche ist, so sehenswert die raren Archivaufnahmen der Zeit mit Visconti sind, so fragwürdig ist doch der Tonfall dieser Dokumentation. Visconti wird als machtbesessener, lüsterner Homosexueller gezeichnet, dessen Körper beim Anblick des Jungen zum Leben erwacht und der den Männern seiner Filmcrew, »alles Homosexuelle«, verbat, den Jungen auch nur anzusehen. Der Film prangert an, was er ein Stück weit selbst reproduziert, wenn er Andrésen mehrfach in intimen Momenten zeigt. Am Ende kehrt Andrésen für den Dokumentarfilm zurück an den Drehort auf dem Lido, wo »Tod in Venedig« im mondänen Hotel des Bains 50 Jahre zuvor gefilmt wurde. Wie ein Gespenst wandelt er durch das Hotel, das selbst auch bessere Zeiten gesehen hat und seit Jahren leer steht. Dazu schneiden Lindström und Petri Bilder aus dem Film. Dazwischen liegt ein Leben.
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