Kritik zu Chaddr – Unter uns der Fluss
In seinem zweiten Dokumentarfilm begleitet Grimme-Preisträger Minsu Park das durch den Klimawandel bedrängte Leben und den gefährlichen Schulweg einer jungen Frau und ihrer Familie aus dem nordindischen Ladakh
Nur zehn Jahre nach der Öffnung des nordindischen Ladakh für westliche Reisende machte der Dokumentarfilm »Das alte Ladakh« von Clemens Kuby 1986 in deutschen Kinos Furore. Der erste Teil einer Trilogie zum Buddhismus passte zu gut in eine Zeit, wo sich ehemalige Maoisten dem Spiritualismus zuwandten. Heute verkauft Kuby als Mentalcoach Bücher und Seminare für Selbstheilung. Das Ladakh wurde zu einem Hauptziel des Trekkingtourismus. Nun kommt mit »Chaddr« wieder ein deutscher Film ins Kino, der neben der Abgeschiedenheit der Hochgebirgsregion auch ihre Integration in das System der Erde zeigt.
Im Zentrum stehen ein Paar und seine jüngste, 18-jährige Tochter aus einem Dorf im Südwesten des Himalaya. Zusätzlich zu einer bescheidenen Subsistenzlandwirtschaft arbeitet der Vater als Dorflehrer, die Mutter webt Teppiche zum Verkauf. Doch der Regen und das Schmelzwasser der Gletscher für die Felder kommen immer spärlicher. Zur Vorbereitung für ein geplantes Studium in Neu-Delhi besucht Tsangyan, die später Softwareentwicklerin werden will, ein Internat in der Provinzhauptstadt Leh hinter dem Gebirgskamm. Und da die um die Gipfel führende Landstraße dorthin im langen Winter meist gesperrt ist, muss sie für die Heimreise – begleitet von ihrem Vater – eine mehrtägige Fußroute durch das Flusstal des gefrorenen Zanskar nehmen, der im Winter »Chadar« (weißes Tuch) genannt wird. Eine Route, die trotz ihrer großen Gefahren seit langem von den Einheimischen genutzt wird, nun aber durch wärmere Winter auch in der Region noch riskanter wird.
Der an der Münchner HFF ausgebildete Filmemacher und Kameramann Minsu Park (Grimme-Preis 2018 für »Sewol – Die gelbe Zeit«) begleitet eine solche Reise von Tsangyan und ihrem Vater nach Zanglan, wo die Mutter ängstlich wartet. Übernachtet wird im Schlafsack in Höhlen oder einfachen Schutzhütten, immer wieder müssen die beiden bei zu dünnem Eis mühsam in die steilen Felsen der Schlucht aufsteigen. Dabei begegnen ihnen auch andere Talwanderer und mit Hightech ausgerüstete Abenteuertouristen, die aber der auf seine Hauptfiguren fixierten Montage des Films leider kaum ein paar Nebenblicke wert sind. Dabei ist der Tourismus als Einkommensquelle der Region zunehmend bedeutend. Und die Straße im Tal, auf die Tsangyan und ihr Vater hoffen, dürfte auch das Ende für den global vermarkteten »Chadar Frozen River Trek« sein.
Zwischen die Reise mit ihren großartigen Landschaftsansichten montiert sind Einblicke in das Alltagsleben im Dorf und im Internat, wo die Verhältnisse karg sind und ein Porträt des Dalai Lama an der Wand hängt. Die stark elliptische Erzählweise des Films ist ästhetisch reizvoll, versagt aber öfter narrative Befriedigung, etwa wenn der langersehnte Moment am Ende des Fußmarschs erzählerisch einfach ausgespart wird. Etwas irritierend in einem Dokumentarfilm des Jahrs 2021 auch, dass die Anwesenheit des Filmteams bei den einsamen Wanderungen und riskanten Manövern zwischen Wasser und Berg in der Inszenierung völlig ausgeblendet wird.
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