Kritik zu Seht mich verschwinden

Filmclip © Farbfilm

Ihren Ruhm verdankte sie ihrer Krankheit: Isabelle Caro wurde als Schockmodell für Magersucht bekannt. Der Filmemacherin Kiki Allgeier hinterließ sie ihr Video­tagebuch, die es zur Grundlage dieses Dokumentarfilms nahm

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Fast fleischlos sitzt die nackte Haut auf Knochen, das Gesicht ist vorzeitig vergreist. Doch die Frau auf dem Plakat ist kein Armutsopfer, sondern eine an Anorexie leidende Actrice. Das Bild entstand für eine Kampagne 2007, als der in den 90ern durch Schockwerbung für Benetton zu Bekanntheit gelangte Fotograf Oliviero Toscani und das Modelabel No-l-ita während der Mailänder Modewoche ein Statement gegen die »anorektische Gesellschaft« – so Toscani – platzieren wollten.

Der Schock saß. Die Aktion machte die französische Kleindarstellerin Isabelle Caro zum gefragten Objekt von Features und Interviews, in denen sie einerseits vor dem dramatischen Schicksal der Krankheit warnt, andererseits immer wieder den eigenen Überlebenswillen herausstellt. Als Aktivistin ist sie in ihrem Element. Spätestens als Caro 2008 mit der Autobiografie »La petite fille qui ne voulait pas grossir« an die Öffentlichkeit geht, werden die Vorwürfe lauter, sie würde ihre Krankheit instrumentalisieren.

Im Herbst 2010 stirbt Isabelle Caro mit 28 Jahren. Als ihr Vater in ihrem Nachlass ein an die New Yorker Filmemacherin Kiki Allgeier adressiertes Videotagebuch findet, leitet er es an diese weiter. Allgeier nimmt das Vermächtnis ernst und macht es zur Grundlage des nun vorliegenden Dokumentarfilms. Zusätzlich mit dabei sind großzügige Archivmaterialien aus Caros kurzer Karriere und von Allgeier gedrehte Aufnahmen von damals und heute, darunter Interviews mit dem Vater und Weggefährten. Dabei wird die Indienstnahme der Kranken durch die Modeszene ebenso deutlich wie die Tatsache, dass die medienübliche Herleitung der Anexorie aus dem Schlankheitsdiktat des Laufstegs die komplexen Zusammmenhänge gefährlich verkürzt. Caro selbst führt ihr Leiden auf seelische Entwicklungsstörungen zurück, genauer: auf ihre Kindheit mit einer depressiven Mutter, die die kleine Tochter in symbiotischer Abhängigkeit hielt und im übertragenen wie im direkten Wortsinn miniaturisierte.

Eine verstörende Geschichte, die allerdings – wie andere Behauptungen Caros – im deutlichen Widerspruch zu den Aussagen des Vaters steht, der von der Tochter der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigt wird, die Zeiten selbst aber als harmonisch darstellt. Es ist eine der vielen Stärken des überzeugenden Films, dass Allgeier diese Widersprüche (die Mutter konnte nicht mehr befragt werden, sie hatte sich kurz nach Isabelles Tod das Leben genommen) weder wegwischt noch aufzuklären versucht, sondern kommentarlos nebeneinander stellt. Und auch wenn Caro sich manches zurechtfantasieren mag, ist der Leidensdruck doch offensichtlich.

Größte Schwäche des Films ist wohl das simplifizierende Verschweigen der Tatsache, dass Isabelle Caro höchstens indirekt an ihrer Anorexie gestorben ist und zum Zeitpunkt ihres Todes eigentlich auf dem Weg der Heilung war. So wirken ihre Beteuerungen von Kraft und Überlebenswillen deplatzierter, als sie es wirklich sind. Ein starkes Plädoyer gegen den zu oft unerkannt bleibenden seelischen Missbrauch in der Familie ist der Film trotzdem.

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