Kritik zu Ein leichtes Mädchen

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Zwei junge Mädchen und ein Sommer unter den Yachtbesitzern und -bewohnern von Cannes: Rebecca Zlotowskis Film kombiniert Coming-of-Age mit kritischem Blick für soziale Verhältnisse

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Es ist der letzte Schultag vor den Sommerferien, ein Tag im Juli, an dem Naïma sechzehn Jahre alt wird; sweet sixteen. Ihre Cousine aus Paris ist zu Besuch gekommen, Sofia, die ein wenig älter ist. 22, behauptet sie einmal, aber wahrscheinlich stimmt das nicht. Die Sonne strahlt auf Cannes herab, an der Riviera urlaubt der Jetset und am Abend lassen sich von der Strandpromenade aus die luxuriösen Yachten bestaunen. Ein Begaffen auf Gegenseitigkeit, denn nur im Kontrast mit der Armut realisiert sich der Reichtum. Sagt Andres, ein Mann mit Geld in den besten Jahren, der mit seinem Assistenten Philippe soeben im Yachthafen von Cannes eingelaufen ist. Er blickt über seinen Tellerrand und der Raubtierinstinkt flackert in seinen Augen auf, als Naïma und Sofia an seinem Boot vorbeilaufen; genauer gesagt: als die nur knapp bekleidete Sofia hüftschwingend vorüberstöckelt.

Ist Sofia jenes »leichte Mädchen«, das Rebecca Zlotowskis Film den Titel gibt? Oder ist es Naïma, deren eher bescheidene Herkunft die Übersetzung des Originaltitels »Une fille facile« mit »Ein einfaches Mädchen« nahelegen würde? Und da es doch beide sind, welche Schnittmengen gibt es zwischen ihnen? Was ist überhaupt ein »leichtes« beziehungsweise ein »einfaches« Mädchen im Kontext dieser Geschichte, die so deutlich auch von den Klassenunterschieden und den Geschlechterdifferenzen handelt sowie von Vorurteilen und Erwartungen, die von Reich und Arm, Mann und Frau, Alt und Jung jeweils aufeinander projiziert werden? Dass Sofia und Naïma mit ihrer algerischen Herkunft zudem einen Migrationshintergrund haben, schärft das Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen Zlotowski erzählt, indem es die einzelnen Fallhöhen deutlich macht.

Naïma, die darüber nachdenkt, ob sie in dem Luxusresort, in dem ihre Mutter als Zimmermädchen arbeitet, eine Ausbildung zur Köchin beginnen soll, zeigt sich von der Weltläufigkeit der Cousine beeindruckt. Sofia unterdessen sucht »Sensationen und Abenteuer«. Man begreift schnell, warum sie an die Côte d'Azur gekommen ist: der Laufsteg der Schickeria ist auch der Arbeitsplatz der Escortdame. Als eine solche hat Zahia Dehar, die in der Rolle der Sofia agiert, eine Weile gearbeitet; eine gewisse Berühmtheit erlangte sie 2010 aufgrund ihrer zentralen Rolle im Prostitutionsskandal um die beiden Fußballspieler Franck Ribéry und Karim Benzema. Der vielleicht gerade nicht mehr minderjährige Pornochic, den Dehar zur Schau trägt, ist also authentisch – und er wird von Zlotowski in einen Zusammenhang gestellt, der eine angemessen mehrdimensionale Betrachtungsweise erlaubt. Daher erleichtert auch kein moralischer Zeigefinger – der beispielsweise den Materialismus Sofias verurteilen oder ihr die Rolle des ohnmächtigen Opfers zuweisen würde – die Orientierung. Weil schließlich ganz von allein inmitten all der Manöver und Manipulationen die Fragilität der Ware zum Vorschein kommt: Projektionen, Traumgestalten, Wunschbilder. Es ist eine Frage der Werte, ob man danach hascht; eine Lektion fürs Leben, die Naïma in diesem grandiosen Sommer an der Seite Sofias von Philippe lernt.

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