Kritik zu Climax

© Alamode Film

Gaspar Noé hat sich als Regisseur der Exzesse aller Art einen Namen gemacht. In seinem neuesten Film bleibt er sich selbst treu und erzählt einmal mehr von einem ekstatischen Tanz, diesmal mit choreographierten Einlagen

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Höhepunkt?! Bei einem Regisseur wie Gaspar Noé kann so ein Filmtitel körperliche Ausfallerscheinungen hervorrufen. Man denke an den rückwärts erzählten Höllentrip »Irreversibel«, Noés auf perfide Art gelungenstes Ungetüm, in dem er eine Vergewaltigung in nie gesehener und nicht enden wollender Grausamkeit filmt, oder an das 3D-Sexdrama »Love«, in dem zwischendurch jemand in die Kamera ejakuliert. Oder auch an den fast komplett aus der Egoperspektive eines Junkies erzählten »Enter The Void«. Mit seinem Hang zur Provokation bewegt sich Noé auf dem schmalen Grat zwischen genialem Enfant terrible und Skandalnudel.

Und nun also »Climax«, der in diesem Jahr in Cannes in der Reihe »Quinzaine des Réalisateurs« mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Noé bleibt sich treu und knallt dem Zuschauer wieder eine audiovisuelle Tour de Force vor die Nase. Gedreht wurde ohne richtiges Drehbuch in nur zwei Wochen, inspirieren ließ sich der Regisseur von einer Schlagzeile der 90er Jahre. Die Geschichte: Die Party einer Tanzgruppe nach einer Probe eskaliert völlig, weil jemand heimlich LSD in die Sangria-Bowle gemischt hat.

Wie einst »Irreversibel« beginnt auch »Climax« mit dem Schluss: Da kriecht eine blutende Frau durch den Schnee, bevor der Filmabspann durchläuft. Schnitt. Die Kamera hält auf einen Röhrenfernseher, auf dem die ins Intime reichenden Castinggespräche mit den Tänzerinnen und Tänzern laufen. Schnitt. Wir sind am Ort des Geschehens in der Turnhalle einer verlassenen Schule, die der Film nicht wieder verlassen wird. In einer elaborierten Plansequenz, der einzigen durchchoreografierten Szene des Films, sehen wir die von Selva (Sofia Boutella) angeleitete 21-köpfige Tanztruppe bei einer Probe, bevor die Party startet.

Damit nimmt die ­Eskalationsspirale ­ihren Anfang. Noé übersetzt die Geschehnisse in ein sich bis zum Bersten steigerndes Cres­cendo aus Musik und (Tanz-)­Bewegung, zu dem der französische DJ Kiddy Smile, der in Persona hinter dem DJ-Pult steht, einen durchgehenden Klangteppich liefert. Auf Discosound folgen stampfende Technobeats, mit dem zunehmenden Rausch der Tänzer werden die Bilder von Noés Stammkameramann Benoît Debie haltloser. Da ist sie wieder, die Schwindelkamera mit ihren immer weiter in Schräglage kippenden und später kopfüberstehenden Bildern.

Anstatt den Skandal zu suchen, versteht Noé den »Höhepunkt« filmimmanent und findet in »Climax« den passenden Stoff für seinen stilistischen Anarchismus. Zwi­schendurch legt er noch semantische ­Spuren, etwa mit Zwischentiteln wie »Das Leben ist eine kollektive Unmöglichkeit«, der riesigen Frankreichflagge hinter dem DJ-Pult oder mit Videokassetten wie Pasolinis »Die 120 Tage von Sodom« und Werken von Nietzsche, die neben dem Fernseher aufgestapelt sind. »Climax« macht assoziative Angebote zu vielem: zu Leben und Tod, Identität, Sex, Kollektiv versus Individuum. Zugleich erzählt er wenig; dies allerdings einnehmend, so man bereit ist, sich dem abgründigen Sog aus Exzess und reinster Physis hinzugeben.

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