Kritik zu Bevor der Winter kommt

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Sechs Jahre nach So viele Jahre liebe ich dich kommt wieder ein Melodram von ­Philippe Claudel in deutsche Kinos: die wohltemperierte Chronik einer Sinnkrise, bei der ein Stalking tragische und heilsame Folgen hat

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Seine Figuren haben uns schon oft enttäuscht. Aber wann hätte er je unsere Erwartungen nicht erfüllt? Daniel ­Auteuil stattet seine Charaktere mit der Gabe der Aufmerksamkeit aus. Ihr Verhalten ist, zumal wenn sie der Bourgeoisie angehören, meist verbindlich. Es ist jedes Mal ein Schock, zu entdecken, dass es ihnen tief im Inneren an Berührbarkeit fehlt oder sie zu Schäbigkeit fähig sind. Die Integrität dieses Schauspielers ruht darin, diesen Zwiespalt einfühlsam zu öffnen. Er bürgt für seine Charaktere, mögen sie auch noch so armselig, kaltherzig oder verschlossen wirken, durch die Sorgfalt, mit denen er ihnen Gestalt gibt.

Auch seine Rolle in Bevor der Winter kommt schürt die Hoffnung, dass der äußere Schein am Ende doch keine Lüge ist. Der Gehirnchirurg Paul übt seinen Beruf bedachtsam und verantwortungsvoll aus. Sein Privatleben jedoch ist eine trügerische Idylle. Seiner Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) ist er ein unachtsamer Ehemann. Um am Leben seines Sohnes Anteil zu nehmen, fehlt ihm, wie er selbst gesteht, die Gebrauchsanleitung. »Du bist freundlich, aber du siehst nichts«, wirft ihm sein bester Freund, der Psychologe Gérard (Richard Berry), vor. Diese Existenz, der Paul in vielen Momenten nurmehr beizuwohnen scheint, gerät aus dem Gleis, als er der Kellnerin Lou (LeÏla Bekhti) begegnet. Angeblich hat er sie operiert, als sie ein Kind war. Sie schickt ihm Rosen nach Hause und in die Klinik, taucht plötzlich an allen Orten auf, an denen sich sein Leben zuträgt. Zunächst wehrt sich Paul gegen ihre Nachstellungen, lässt sich dann aber in den Bann der jungen, wehmütigen Frau schlagen. Lucie vertraut er sich nicht an.

Lou sucht Pauls Leben heim wie eine unerwartete Forderung. Nach aller Logik des Melodrams müsste diese Anfechtung in einer Affäre münden. Philippe Claudel schickt seinen Protagonisten in eine umfassende Sinnkrise. Die Idylle, die er anfangs beschwört, verlangt nach einer Demaskierung. Aber Claudel geht höflich mit seinen Figuren um. Sind die Erschütterungen, denen er sie aussetzt, ein Grund, um sich um sie zu sorgen? Oder gehören sie dem Genre einfach nur als eine bewährte Konvention an? Noch ist Herbst, die Zeit der malerischen Morgennebel. Bis zum Frost, bis zur Verharschung der Gefühle, bleibt noch eine Frist.
Claudel tritt mit diesem Film das Erbe Claude Sautets an. Er tut es in expliziten Verweisen und mit einer gewissen Demut. Die Schärfe und Hellsicht von Sautets Blick sind ihm fremd, bei ihm kommen die Gediegenheit des Milieus und des Erzählstils zur Deckung. Beide sind solide, widerständig. Aber Claudels Erzählung ist nicht hermetisch. In einer verblüffenden Szene (und deren späterer Replik) öffnet sie sich über die behagliche großbürgerliche Sphäre hinaus. In ihr vertraut sich eine alte Patientin vor der Operation ihrem Arzt an; sie möchte, dass ihre Existenz eine Spur hinterlässt. Ihre Bitte um Aufmerksamkeit wird nicht vergeblich sein.

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