Rauchende Schornsteine, renitente Maschinen

An Mangelwirtschaft ist der sturmerprobte Facharbeiter Paul gewöhnt, aber das kann er nicht fassen. "Ein Betrieb mit 2000 Mann", schnaubt er wütend, „und keine 16er Mutter!“ Seit Jahren, Jahrzehnten reibt er sich auf für das Metallwerk, aber es läuft einfach nicht rund. Immer wieder stehen die Maschinen still.

Pauls größte Sorge ist nicht unbedingt das Plansoll, das die Partei erfüllt sehen will, sondern der korrekte Ablauf des Betriebs. Dafür setzt er sich mit seiner ganzen Kraft ein. Bertrand Tavernier hätte diese leidenschaftlich engagierte Figur, der es unerbittlich um die Sache geht, zweifellos gefallen. Nicht einmal in der Kur, in die er nach einem Herzanfall geschickt wird, kann er sich von ihr lösen. Er schreibt den Kollegen vom Ostseestrand und fragt, ob seine Lieblingsmaschine wieder läuft. Nach seiner Rückkehr an die Fließbänder gibt das Herz dieses Helden der Arbeiterklasse endgültig auf.

Dem DDR-Regime wäre es lieber gewesen, wenn der Veteran in "Berlin um die Ecke" als strahlendes Vorbild für die Jüngeren gedient hätte. Aber zwischen den Generationen hat sich 1965 ein Abgrund aufgetan, der sich kaum überwinden lässt. Die eigentlichen Protagonisten von Gerhard Kleins Film, Olaf und Horst, rebellieren offen gegen die Betriebsleitung. Sie wurden in die falsche Lohnklasse gesteckt, nun drohr ihrer Jugendbrigade die Auflösung. Sie protestieren zornig und gewitzt dagegen, auch ihnen geht es um die "Sache", aber ihre Zweifel am Sozialismus wachsen stetig. Die Struktur von Wolfgang Kohlhaases Drehbuch ist selbst ein wenig anarchisch. Sie gibt sich launisch, folgt mal dieser, mal jener Figur, die jeweils durch ihr Verhältnis zur Arbeit definiert wird. Selbst den erbitterten Gegner des reninenten Duos setzt sie so in sein erzählerisches Recht. Olaf lauert ihm daheim auf, um ihn zur Rede zu stellen. Ein Dialog zwischen ihnen ist nicht möglich, aber ein Einblick in das Leben des einsamen Betonkopfes wird gewährt. "Berlin um die Ecke" gehört in die Reihe der Verbotsfilme, die mehr als zwei Jahrzehnte in den Regalen der DEFA verschwanden.

Er demonstriert, dass die Arbeit im Kino immer mehr als nur Einkommenssicherung ist. Pünktlich zum Tag der Arbeit nimmt das Streamingprogramm der Deutschen Kinemathek dieses Thema in den Blick. "Working Class Heroes" (https://www.deutsche-kinemathek.de/de/online/streaming) entfaltet ein kleines deutsch-deutsches Panorama, das vor Augen führt, wofür die Berufstätigkeit stehen kann. Sie stiftet Identität, steht für Teilhabe, verbindet sich mit Stolz und Würde. Sie kann zugleich ein Terrain der Ungleichheiten sein, der Zurücksetzung und der Entfremdung (nicht zuletzt von der Betriebsleitung). Ihr Verlust geht einher mit sozialer Entwertung. Das Kino hat freilich den Vorzug, die Protagonisten nicht bloß als Bittsteller oder Kostenfaktor zu betrachten, sondern ihr menschliches Potenzial zu kennen.

Die Kinemathek zeigt überwiegend dokumentarische Arbeiten. Helke Misselwitz porträtiert eine privatwirtschaftlich geführte Kohlenhandlung in Ostberlin ("Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?"); Jürgen Böttcher (Martha) sowie das derzeit gerade in unseren Kinos präsente Gespann Christoph Hübner und Gabriele Voss (die achtteilige Serie »Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S.«) zeichnen individuelle Biographien vor dem Hintergrund sich wandelnder Industriegeschichte. Sie alle werden getragen von der Ausstrahlung der befragten Protagonisten, die eindringlich und unmittelbare Zeugnis ablegen.

In einer Gegenwart, in der sich Berufsbilder drastisch ändern oder ganz wegfallen, gebiert der historische Rückblick brennende Aktualität. Der früheste Film reicht in die Weimarer Republik zurück: »Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?« entwirft ein Zeitbild vom Berlin der Wirtschaftskrise. Heere von Tagelöhnern suchen auf dem Rad nach Arbeit; Fabrikschornsteine rauchen, aber Jobs gibt es keine. Das sind sind lautstarke Stillleben, rissig fragmentiert und voll klassenkämpferischem Elan.

Slatan Dudows Klassiker des proletarischen Films steht an der Schnittstelle zwischen Stumm- und Tonfilm, zieht seine Lehren gleichermaßen aus dem sowjetischen Montagekino wie dem epischen Theater des Co-Autors Bert Brecht. Dessen Handschrift zeigt sich sarkastischen Kapitelüberschriften, gesungenen Moritaten und Epigrammen in Alltagssprache, die seine Art waren, dem Volk aufs Maul zu schauen. Herta Thiele, Ernst Busch und andere intonieren sie mit kräftiger Stimme, die von der Depression ermattet ist. Hanns Eislers Musik legt unerbittlich Tempo vor.

Ein Wechselbalg aus Dokumentar- und Spielfilm, ein bekümmerter Propagandafilm, der dennoch eine Utopie wagt und in der Titel stiftenden Zeltkolonie eine Idylle findet. Er wurde sogleich von den Nazis verboten und hat die Zeit nur als Fragment überlebt, das von Martin Körber federführend aus internationalen Archiv-Kopien restauriert wurde. Zum dritten Mal in zwei Wochen taucht Brecht in diesem Blog auf, mein Lieblingsfeind seit dem Gymnasium? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Ich mache lieber Schluss, denn heute ist schließlich Feiertag.

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