Ökonomie der Unabhängigkeit

Zu den zahllosen verwunderlichen Aspekten von „Beau ist afraid“, der in der letzten Woche startete, gehören die Filme, die Ari Aster inspiriert haben. Es muss nicht verblüffen, wenn er „Das Fenster zum Hof“ und „Irrtum im Jenseits“ von Powell & Pressburger nennt. Aber wie gelangt „Playtime“ von Jacques Tati in dieses Einflussdelta?

Im Interview mit „Indiewire“ erzählt Aster, ihn habe beeindruckt, dass der Humor bei Tati allein schon durch Setdesign und Komposition entsteht. Ihm gefalle, wie die harten Linien und reduzierten Dekors der modernistischen Architektur ein feindseliges Ambiente schaffen. Tatis Vision der Entfremdung gührt ein reiches Nachleben, nicht nur im urbanen Alltag. Denn Aster ist keineswegs der einzige Filmemacher, der sich auf „Playtime“ beruft. Der Brite Isaac Julien hat 2013 eine Installation nach ihm benannt - auch dies eine verwunderliche Abkunft, die zeigt, wie offen Tatis Interpretationsräume stehen. Er versteht seine Schau als grimmige Paraphrase auf ihn. Sie läuft im „Palais Populaire“ der Deutschen Bank in Berlin noch bis zum 10. Juli. Ich war aus zwei Gründen neugierig auf sie.

Zum einen ist Julien ein Regisseur, der einmal Furore machte: als Pionier eines Black British Cinema, das zudem queer war. Er fing während seines Film- und Kunststudiums mit Videoarbeiten an und gründete in den 1980er Jahren Teil der rührigen Koperative Sankofa, die ungekannte thematische und stilistische Perspektiven eröffnete. Schlagartig bekannt wurde er 1989 mit „Looking for Langston“, einer Hommage an den amerikanischen Dichter Langston Hughes und die Harlem Renaissance der 1920er Jahre, die auf der Berlinale einen Riesenerfolg feierte. 1991 wurde „Young Soul Rebels“ in Cannes mit dem Hauptpreis der Semaine de la critique ausgezeichnet. Ich fand ihn eher einen interessanten Themenfilmer, der ein immenses, einschüchterndes Reservoir der Zitate und Referenzen ausschöpfte. Das Erzählen schien eine nachrangige Sorge für ihn zu sein. „Looking for Langston“ ist ein sinnlicher, zorniger Essay, ein Labyrinth aus Spielszenen, found footage und found text. Noch so ein eigensinniger Absorbierer! Mit „Young Soul Rebels“ gelang ihm der Sprung in den Mainstream. Auch der zweite Film platzte aus allen Nähten: ein Cocktail aus schwarzer und queerer Subkultur, dem aufkommenden Punk, lebensbejahendem Soul und der DJ-Kultur, all das vor dem Hintergrund des silbernen Kronjubiläums der Queen 1977 und durchzogen von einem Krimiplot, für den er sich nur geflissentlich interessierte. Danach wandte er sich allmählich vom Kino ab, weil ihm die Kunstwelt größere Unabhängigkeit versprach.

Beim Wiedersehen stellte ich fest, wie gut seine Kinofilme die Zeit überdauert haben. „Looking for Langston“ funktioniert noch immer als eine ästhetisch bestrickende Archäologie eines verdrängten  schwarzen, schwulen Selbstbewusstseins, in dem die Worte und die Körper eine komplexe Verbindung eingehen. Und „Young Soul Rebels“ ist wirklich munter dank der Freizügigkeit, mit der er verschiedene Milieus aufeinandertreffen lässt. Die Hauptdarsteller sind noch immer ungelenk an, aber das Ganze hat den Schwung eines trotzigen Aufbruchs.

Ein Filmemacher blieb er seither, auch wenn er nun Triumphe in der Kunstwelt feiert und von der Queen in den Adelstand erhoben wurde (nachtragend war sie wohl nicht). In der Londononer Tate läuft momentan eine vielbeachtete Werkschau, die eine tour d'horizon seines Schaffens aus vier Jahrzehnten unternimmt. Von der Multi-Screen- Installation „Playtime“ existieren mehrere Varianten, die bis zu sieben Leinwände umfassen. In Berlin sind es drei, auf denen Szenen mal parallel, mal gegeneinander, mal im Perspektivwechsel und dann als Erweiterung, Entgrenzung montiert sind.

Sie macht ihrer tatiesken Abkunft Ehre. Ihren Schauplätzen entlockt sie enorme Beredsamkeit: Sie künden von Abwesenheit und kühler Sterilität. Über eine Stunde sitzt man gebannt vor den Leinwänden, so eindringlich und opulent setzt Julien sein Thema um: Eminent kapitalismuskritisch analysiert er die Verflechtung von Finanz- und Kunstwelt. Die Frage nach der Kommerzialisierung treibt ihn schon in seinen Kinofilmen um. In „Looking for Langston“ beklagt er, wie die Mäzene den Moden folgen und plötzlich kein Interesse mehr an der Harlem Renaissance haben. In „Young Soul Rebels“ schildert er den Ausverkauf der Gegenkultur: Die Fans können es nicht verwunden, dass die „Sex Pistols“ zeitweilig bei dem Label „A&M“ unter Vertrag stehen. Und Vivienne Westwood verlangt 1977 für ihre T-Shirts bereits 20 Pfund!

In „Playtime“beißt Julien durchaus in die Hand, die ihn füttert. Hier kommt der zweite Grund meiner Neugier ins Spiel, denn das Werk gehört zur Sammlung Wemhöner. In meiner Geburtststadt hat dieser Name einen guten Klang. Die traditionsreiche Maschinenbaufirma existiert in Herford seit fast 100 Jahren; Heiner Wemhöner führt sie in der dritten Generation. Mein Vater hatte gelegentlich mit ihm zu tun, als er im Stadtrat saß. Einer meiner Nachbarn arbeitet in seinem Unternehmen als Schweißer. Er berichtet stolz von den gigantischen Druckpressanlagen, die in Ostwestfalen und an dem zweiten Standort im chinesischen Changzhou gefertigt werden. Die zweite Existenz seines Arbeitgebers als Mäzen und Sammler erstaunt ihn eher. Wenn mein Nachbar die Kultur für lebenswichtig hielte, wäre er gewiss begeistert. Die Sammlung, die Philip Bollmann ziemlich alert kuratiert, wächst stetig. Sie nimmt den Puls der Gegenwart. Zugleich kann sie mit großen, etablierten Namen wie Marina Abramovic, Georg Baselitz, Monica Bonvicini, Roy Lichtenstein und Richard Serra prunken. Ein Schwerpunkt liegt auf der Fotografie (auch hier sehr prominent besetzt: Nan Goldin, Peter Lindbergh, Robert Mapplethorpe, Herb Ritts u.a.), ein weiterer auf chinesischen Künstlern. Von Julien hat Wemhöner er auch einige knackige Standfotos aus „Looking for Langston“ erworben.

„Playtime“, obgleich schon zehn Jahre alt und als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 entstanden, wirkt brandaktuell. Der Markt setzt inzwischen noch größere, bizarrere Energien fre, aber es wird einem schon beim Stand von 2013 mulmig genug. Das ersten von insgesamt fünf Kapiteln zeigt einen raffinierten  Hedgefondsmanager, der den nächsten Coup vorbereitet. Colin Salmon, dessen Strenge ich sehr mochte, als er zum Team von M in den Pierce-Brosnan-Bonds gehörte, stattet ihn mit verführerischem Elan aus. Auch die folgenden Kapitel sind prominent besetzt: etwa mit James Franco, dem seinerzeit kaum zu entkommen war, als selbstgewissem Galeristen und mit Maggie Cheung, die als TV-Journalistin auftritt, die einen Auktionator (der charismatische Simon de Pury spielt sich selbst) interviewt. Julien setzt Gegengewichte zu dem nach der Krise wieder beklemmend reibungslos funktionierenden Tauschhandel zwischen Kapital und Kunst. Eindrücklich ist die phillipinische Hausangestellte (Mercedes Cabral), die ihre Kinder zurücklassen musste, um deren Lebensunterhalt in Dubai zu verdienen. Migration ist eines der Stammthemen von Julien; ich musste unwillkürlich an Joseph Borrell denken, der unlängst sagte: „Die glückliche Globalisierung ist vorbei.“ Bemerkenswert ist auch die Rolle, die Julien dem Künstler in diesem Spiel zuweist: enteignet und ohne Macht. Er tritt auf als Konjunkturverlierer (Ingvar Eggert Sigurosson), der niedergeschlagen durch sein verlassenes Domizil auf Island streicht. „Als ich zurückkam“, sagt er, „gab es im ganzen Haus nicht einmal mehr einen Stuhl.“

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