Spurensuche für die Zukunft

Das Aufsehen, das ein Film erregt, entscheidet bisweilen über mehr als den Ruhm des Filmemachers oder den Kontostand der Produzenten. Manchmal hängen Schicksale daran. Menschen knüpfen große Erwartungen an sie: möge das Kino mithelfen, dass sich die Dinge für sie endlich zum Besseren wenden. „An Episode in the life of an Iron picker“ von Danis Tanovic, der im letzten Jahr auf der Berlinale zwei Silberne Bären gewann, ist ein solcher Film. Er zeigt das von Ausgrenzung und Armut bedrohte Leben einer Romafamilie in Bosnien-Herzegowina, Die Betroffenen spielen sich selbst; Vater Nazif Mujic gewann den Preis als Bester Darsteller.

Nach der Rückkehr in die Heimat verschlechterte sich die Situation der Familie. Die geringe Gage hielt nicht lange vor (das gesamte Budget betrug nur 17.000 Euro) und Herr Mujic konnte aus diversen Gründen nicht mehr in seinem alten Beruf als Schrottsammler arbeiten. Die Familie beantragte Asyl in Deutschland und kehrte wenige Monate später zurück an den Ort ihres Triumphs zurück. Zum Frühjahr, nach Ablauf der „Winterduldung“, drohte ihnen die Abschiebung, da sie als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft wurden. Die Festivalleitung erfuhr erst aus der Presse von ihrer Rückkehr - allerdings früh genug, um vor Beginn der diesjährigen Berlinale zu reagieren. Die Festspiele stellten, im Bewusstsein ihrer Verantwortung, eine Anwältin, die nun für das Bleiberecht der Familie streitet. Zur Eröffnungsgala wurde der Vater, dessen Familie auf 30 Quadratmetern in Gatow wohnt, mit einer schwarzen Limousine abgeholt: ein Spagat zwischen Misere und Glamour, auf den sich die Berlinale versteht.

Das Berliner Kino Arsenal folgt nun einer Schicksalslinie, die noch weiter zurückreicht. Auch hier geht es um Romafamilien, die zu Opfern gesellschaftlicher Zustände wurden. Am morgigen Dienstag (6.5.) läuft im Kino 1 um 20:15 Uhr „Revision“ von Philip Scheffner, der vor zwei Jahren im Forum der Berlinale zu sehen war (http://revision-film.eu/de). Die Vorführung ist eine Initiative von großer moralischer Eleganz: Es ist ein „Welcome screening“ für die Familie eines der Betroffenen; die Einnahmen des Abends sollen als Unterstützung dienen für den Neuanfang, welchen sie in Deutschland wagen will.

Dabei hätten die Hinterbliebenen von Grigore Velcu allen Grund, diesem Land keine weitere Chance zu geben. Herr Velcu und sein Freund Eudache Caldera wurden im Morgengrauen des 29. Juni 1992 in einem Gerstenfeld in Mecklenburg-Vorpommern von der Kugel eines Jägers getötet, der sie angeblich für Wildschweine hielt. Die beiden Rumänen hatten zuvor gemeinsam mit anderen Landsleuten illegal die deutsch-polnische Grenze überschritten. Grigore Velcu wollte zurückkehren zu seiner Familie, die in einem Heim für Asylbewerber lebte. Sein Begleiter rang noch acht Stunden lang mit dem Tode, bevor endlich die Polizei am Tatort eintraf. Zwar strengte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen die Jäger an, sie wurden jedoch nie wirklich zur Rechenschaft gezogen. „Revision“, den Scheffner zusammen mit Merle König recherchierte und schrieb, handelt von, man kann es nicht anders nennen, einem Justizskandal: Es wurde schlampig und mit verächtlicher Gleichgültigkeit ermittelt, das Verfahren wurde jahrelang verschleppt, wichtige Tatzeugen wurden nie vernommen. Kein Mitarbeiter hiesiger Behörden hielt es für nötig, die Hinterbliebenen von Grigore Velcu und Eudache Calderar von deren Tod und dem späteren Prozess zu unterrichten.

Der Film leistet, was die Justiz unterließ: Er geht, um der Opfer, ihrer Angehörigen und der Wahrheit willen, in Berufung. Er zielt nicht darauf, die Ereignisse zu skandalisieren, sondern geht mit unerbittlicher Umsicht und Gewissenhaftigkeit vor. Das Filmteam versammelt die Bauern, Beamten und Feuerwehrleute, die die Toten fanden, zu einem Ortstermin (ihn in Augenschein zu nehmen, hielt das Gericht seinerzeit für überflüssig), rekonstruiert akribisch die Sichtverhältnisse zur Tatzeit, hört Zeugen und Sachverständige. Scheffners Recherche ist von bestürzend humaner Sachlichkeit. Er lässt dem Zuschauer die Freiheit, sich zu empören. Die Revision ist auch ein Stilprinzip seines Films, die Wiederholung von Daten und Fakten gibt ihm seinen Rhythmus. Die Befragten werden mit ihren Aussagen aus den Vorgesprächen konfrontiert, können sie kommentieren und ergänzen. Vor allem die Angehörigen kommen zu Wort, ihren Erinnerungen und ihrem Schmerz wird ein geschützter Raum gegeben. Scheffner legt sich präzise Rechenschaft ab über seine eigenen erzählerischen Mittel.

Wie in seinen vorangegangenen Filmen, „Halfmoon Files“ und „Der Tag des Spatzen“, verleiht der Regisseur dem Unsichtbaren und Verdrängten auch hier dokumentarische Evidenz. Die zeitpolitischen Zusammenhänge, die er dabei ans Licht bringt, sind schwer zu ertragen. Das Grab von Velcus Mutter wurde von Vandalen verwüstet, denen das Asylbewerberheim ein Dorn im Auge war. Die Tatzeugen kamen zur Abschiebung in die zentrale Aufnahmestelle nach Rostock-Lichtenhagen, wo Neonazis ein Pogrom veranstalteten. Die Indifferenz der Behörden und der nicht nur latente Rassismus verdichten sich zu einem Zeitbild, dessen Schrecknisse nicht dadurch gebannt werden, dass die Ereignisse zwanzig Jahre zurückliegen.

Dass dies nun in der Gegenwart zum Thema eines Dokumentarfilms wird, ist für die Angehörigen ein Schock. Immer wieder fragt Scheffner seine Gesprächspartner, wo für sie diese Geschichte beginnt. Alles auf Anfang: Mit dieser Regieanweisung wird bei Dreharbeiten ein neuer Take angekündigt. Das ist tägliche Routine auf jedem Filmset. Der Familie des Grigore Velcu ist zu wünschen, dass ihr ein ebenso reibungsloser Neuanfang gelingt.

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