Kritik zu Attenberg

Trailer OmU © Rapid Eye Movies

Der spröde Charme von Ellenbogen unterm Pullover: Mit ihrem ganz gegen alle Striche gebürsteten Coming-of-Age-Film bildet Athina Rachel Tsangari eine wahre Schaumkrone der Neuen griechischen Welle

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Filmküsse können so schrecklich sein wie Filmmorde. Müssen sie aber nicht. Da ist zum Beispiel der Zungenkuss, mit dem dieser Film beginnt. Das Besondere an ihm ist nicht, dass es zwei Frauen sind, die sich hier ausgiebig oral befummeln. Speziell ist vielmehr die Position der Kamera, die frontal unbewegt auf die Küssenden schaut. Und auch die beiden selbst scheinen am Tun mehr experimentell spielerisch denn mit ernsthaft erotischen Absichten beschäftigt. Marina und Bella sind Freundinnen im jungen Erwachsenenalter. Doch im Gegensatz zu Bella ist Marina für ihr Alter in Liebesdingen sehr unerfahren und lässt sich gerade erst leicht angeekelt in die Grundlagen einweisen. Auch sonst steht sie dem sozialen Leben mit beobachtender Distanz gegenüber, was in dem abgelegenen und fast entvölkerten Küstenort zwischen Meer, Industrieanlagen, Reihenhäusern und Hotel aber nicht wirklich auffällt.

Marina lebt mit ihrem krebskranken Vater, einem ehemaligen Architekten, in einer fast symbiotisch engen Beziehung. Seine Lebenszeit ist nur noch kurz, lässt sich vermuten: Ebenso nüchtern und direkt wie sie zu ihm über ihren Ekel vor Männern und deren Geschlecht, spricht er über den Tod und den Wunsch, seine Überreste nicht den Würmern zu überlassen, sondern lieber dem Meer: »Ich spende meinen Körper der nächsten Fischsuppe «, sagt er – und auch sonst ist der Umgangston zwischen den beiden oft so despektierlich wie die Haltung zärtlich und ernst. Gerade erst haben sie noch in albernem Überschwang gemeinsam Hühner und Gorillas imitiert, geht es schon zur General(selbst?)kritik an der jüngsten Geschichte: »Ich boykottiere das 20. Jahrhundert, es ist überbewertet, und ich bereue nicht, es zu verlassen.« Marinas Beziehung zu Bella changiert zwischen kindlicher Albernheit, Eifersüchteleien und ganz innigen Momenten: Besonders hübsch anzusehen sind kleine durchchoreographierte Zwischenstücke, in denen die Freundinnen (beide Darstellerinnen sind ausgebildete Tänzerinnen) ihr händchenhaltendes Defilee mit verrückten Schrittkombinationen aufbrezeln: Das »Ministry of Silly Walks« der Monty Python lässt fröhlich grüßen.

Doch auch nicht so offensichtlich verspielte Szenen inszeniert Tsangari mit einer Lust an der Verfremdung, die vermutlich an Brecht und Godard geschult ist, aber auch an frühe Filme Hal Hartleys erinnert. Und einmal – in einer romantischen Gesangsnummer, die raffiniert mit einem Song von Françoise Hardy verwoben ist – könnte man glatt in einem Jacques-Demy-Musical sein.

Dabei gründet die zweite lange Regiearbeit von Athina Rachel Tsangari den unterliegenden Coming-Of-Age-Plot mit der konkreten Benennung und Erforschung von menschlichen Körperlichkeiten im weiten Spektrum der Natur. Mediale innerfilmische Referenz sind die Tierdokumentationen von David Attenborough, die Marina so gerne schaut und deren Schöpfer – in ihrer gräzisiert verballhornten Aussprache – dem Film den Namen gegeben hat. Tsangaris Perspektive istebenso dezidiert weiblich wie antisexistisch, auch weil sie Marinas abweichendes Empfinden nicht problematisiert, sondern als Fokus zur Dekonstruktion gesellschaftlicher und filmischer Stereotype einsetzt. Ariane Labed, die für ihre Darstellung in Venedig die Coppa Volpi erhielt, gibt ihrer Figur bei aller jugendlichen Attraktivität nichts Weibchenhaftes. Und wenn sich Marina auszieht, rutscht die Kamera nicht auf die Brüste, sondern beobachtet geduldig den bizarren stoffbezogenen Buckel der Ellbogen, der sich über dem Kopf bildet.

Die Kamera von Thimios Bakatakis beherrscht alle Register von der sorgfältig kadrierten Totale bis zur bewegten Nahaufnahme. Giorgos Lanthimos, der Regie-Shootingstar unter den jungen Griechen, spielt in Attenberg nicht nur selbst als Darsteller mit, er hat den Film auch produziert – so wie Tsangari die drei letzten Arbeiten von Lanthimos produzierte. Das Land ist klein, man kennt und unterstützt sich und zeigt bei aller Vielfalt auch gewisse ästhetische Affinitäten. Das junge griechische Kino agiert derzeit so vital wie lange nicht und scheint (bisher) von der ökonomischen Krise mehr beflügelt als gelähmt. Erfreulich, dass mit Tsangari eine weibliche Regiestimme so präsent ist.

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