Interview mit Kenneth Lonergan über seinen Film »Manchester by the Sea«

»Als Regisseur braucht man für jeden einzelnen Moment eines Films eine Lösung«
Kenneth Lonergan. Foto: Universal Pictures

Kenneth Lonergan. Foto: Universal Pictures

Sein bislang bekanntester Film, »Margaret«, kam in Deutschland nur auf DVD heraus. In den USA wurde Kenneth Lonergans Film zum zentralen Geheimtipp des Filmjahres 2011 – und er selbst stieg nicht zuletzt wegen des jahrelangen Rechtsstreits um die Schnittfassung zum unfreiwilligen Helden des amerikanischen Independent-Kinos auf. Bekannt geworden durch sein Drehbuch für die Robert-de-Niro-/Billy-Crystal-Komödie »Analyze This«, bewies Lonergan mit »You can count on me« sein Talent für psychologisch fein austarierte Charakterdramen.Sein neuer Film »Manchester by the Sea« galt von der Premiere in Sundance im Februar 2016 an bereits als Oscarfavorit.

epd Film: Wenn man »Manchester by the Sea« gesehen hat, fällt es schwer, sich den Film anders vorzustellen, etwa mit einer anderen Besetzung, einem anderen Regisseur. Doch vermutlich hat sich die Idee dazu noch deutlich von dem Film unterschieden, der 2016 beim Festival in Sundance seine Premiere erlebte?

Kenneth Lonergan: Alles in allem ja. Der jahrelange Rechtsstreit um meinen vorherigen Film hat mich sehr viel Energie gekostet. Er endete damit, dass ich 2010 meinen Director's Cut von »Margaret« veröffentlichen durfte, aber fürs Erste hatte ich mehr oder weniger abgeschlossen mit dem Filmemachen. Umso erfreuter war ich, als John Krasinski und Matt Damon, der in »Margaret« eine kleine Rolle als Lehrer hatte, mit der Idee für ein Drehbuch zu mir kamen. Es sollte eine Familiensaga à la Eugene O'Neill werden, über einen Mann, der seine Familie verliert, sich dann aber seines Neffen annehmen muss und dar­aus langsam neuen Lebenswillen schöpft.

Das heißt, die Storyline stand von Anfang an fest?

Genau. Alles andere hat sich im Lauf der fünf, sechs Jahre seither geändert, und nicht nur dass ich mit O'Neill echt nichts am Hut habe! Ursprünglich war John, der aus Massachusetts stammt, als Hauptdarsteller vorgesehen, und Matt wollte Regie führen. Aber wie so oft haben sich Zeitpläne verschoben, kamen andere Verpflichtungen dazwischen – schlussendlich habe ich mich gern breitschlagen lassen, den Film auch selbst zu inszenieren, und Casey Affleck, der vor Jahren in einem Stück von mir [»This Is Our Youth«, London 2002] spielte, übernahm die Hauptrolle.

»Manchester by the Sea« könnte genauso gut auch »Schuld und Sühne« heißen. Lee, die Hauptfigur des Films, fühlt sich schuldig am Tod seiner Kinder. Im juristischen Sinn trifft das aber nicht zu, muss er deshalb umso verzweifelter nach Bestrafung suchen?

Ich schätze Ja. Er sehnt sich nach Strafe. Dass er sich Tag für Tag weiter durchschlägt, das tut er nicht für sich, sondern für seinen Bruder und seinen Neffen. Joe rettet Lee das Leben, indem er ihn testamentarisch als Erziehungsberechtigten von Patrick einsetzt: Er besteht darauf, dass sein kleiner Bruder am Leben bleibt, indem er ihm diese Aufgabe hinterlässt. Lee versucht also sein Bestes, aber das gelingt nicht immer, und dann lässt er sich quasi zur Strafe volllaufen und fängt eine Schlägerei an. Als meine Frau [die Schauspielerin J. Smith-Cameron] den Film gesehen hatte, meinte sie, es gebe zwei Dinge, die Lee wahnsinnig machen – wenn Leute ihn anstarren oder wenn er meint, jemanden verletzt zu haben. Ich war mir dessen nicht bewusst, aber es stimmt und war eine sehr gute Beobachtung.

Viele amerikanische Filme der letzten Jahre – von den Superheldencomics bis zu oscargekrönten Independents à la »Whiplash« – kommen so brutal wie Kriegsfilme daher. Auch in Ihrem Film herrscht eine ganz tiefe Spannung, unter der es die Charaktere ständig zu zerreißen droht – was erzählt das über die US-Gesellschaft von heute?

Ach Gott, ich weiß nicht. Darüber denke ich im Hinblick auf meine Arbeit nicht wirklich nach, sondern wenn, dann in Bezug auf das alltägliche Leben... Es gibt sehr viel künstlich eingebaute Konflikte in amerikanischen Filmen, das finde ich bedauerlich, weil es fast schon zur Pflicht geworden ist. Banales Beispiel: Eine Figur – wham, pam, pah – hasst ihren Boss. Nun, es hasst aber nicht jeder seinen Boss, und eventuell wär's nett, wenn einer zur Abwechslung mal seinen Boss mag. Was, wenn er nett ist? Oder der Polizist nett ist? Selbst wenn sie miteinander auskommen, gibt es immer noch ausreichend Konfliktstoff. Mich persönlich interessiert das wesentlich mehr. »Whiplash« – sicher kein Lieblingsfilm von mir – ist eine unabhängige Produktion, die mit dem Können des Regisseurs und der Schauspieler steht und fällt. Und so soll es auch sein. Wirklich schlimm finde ich diese Retortenfilme, die von einem Komitee von Autoren für ein Komitee von Produzenten verfasst werden. Einer ist wie der andere. Sie können sicher sein, dass der Bursche und das Mädchen sich hassen, wenn sie einander kennenlernen. Echt, alle? Und später beginnen sie einander dann irgendwann zu mögen? Na schön. Allerdings war's bei mir immer umgekehrt: Ich war nie mit einem Mädchen zusammen, das ich nicht mochte – gehasst haben wir uns dann später! Kurz gesagt: Was auch immer als Formel des Tages ausgegeben wird, ist bloß eine Mode, die aufgrund von Finanzinteressen perpetuiert wird. Bevor wir etwas Neues versuchen, machen wir lieber etwas nach dem Muster, das wir schon kennen, und variieren es ein klein bisschen: Das werden die Leute mögen. Ich finde das furchtbar langweilig und feige und hoffe, dass mein Film nicht in diese Kategorie fällt.

Im Gegenteil, »Manchester by the Sea« wirkt wie aus der Zeit gefallen, er ist ganz frei im Tempo und Rhythmus seines Erzählens – ein Film wie aus den Siebzigerjahren.

Hm, danke. Es gibt tatsächlich viele Filme in den 1970ern, die persönlich sind und zugleich das echte Leben reflektieren. Das schönste Beispiel dafür: Bob Rafelsons »Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst« mit Jack Nicholson, einer meiner All-Time-Favorites. Natürlich gab's auch schlechte Filme damals, aber der herrschende Zeitgeist war wunderbar – und für das Filmemachen war diese Dekade so fruchtbar wie keine andere.

Dazu gehört auch die Welthaltigkeit vieler Filme damals, ihre großartige Location-Arbeit. Auch solche Orte wie bei Ihnen bekommt man sonst kaum im Kino zu sehen – wie wichtig war Ihnen New England als Schauplatz?

Sehr. Ich mag vor allem die Küstengegend, wo einst ganze Ortschaften nur vom Fischfang lebten. So auch Lees Familie, sein Bruder Joe war ja Hummerfischer. Dazu kommt, dass mein eigenes Wohlbefinden extrem von meiner Umgebung abhängt. Deshalb schau ich jetzt dauernd zum Fenster. Ich bin zum ersten Mal in Wien, und hier ist alles anders als in New York, wo ich aufgewachsen bin: eine intensive, physisch ungeheuerlich belastende Umgebung. Sobald man eine Minute von dort weg ist, merkt man erst den Unterschied! Ich glaube, dass die Umwelt, die Lebenswelt, einen immens großen Einfluss darauf hat, wie sich Menschen verhalten. Das in eine Geschichte einzubringen, finde ich spannend – ganz besonders im Kino, das Orte und Landschaften auf so wunderbare Weise wiederzugeben vermag.

Kann einem das Leben in einer Großstadt wie New York nicht auch zusätzliche Energie verleihen?

Ja, für viele Leute tut es das. Für mich nicht. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo mich die Stadt eher auslaugt und ich lieber in meinen vier Wänden bleibe... Ich liebe New York, aber ich liebe auch Ruhe und Frieden. Ich möchte nicht am Ende der Welt leben, aber ein bisschen ruhiger darf es schon sein. Dann habe ich tatsächlich mehr Energie.

Die Schriftstellerin Rachel Kushner, die Sie für das »Bomb«-Magazine interviewt hat, schrieb: »Lonergan hat keine Angst vor Plot« – pflichten Sie bei?
(Lacht) Ach was, das ist doch nicht wirklich zum Fürchten! ­Warum sollte irgend jemand Angst davor haben?

Das vielleicht nicht, aber es gibt doch Filme, die überhaupt nichts mehr erzählen wollen – nicht über Charaktere, nicht über konkrete Situationen, nichts über das Leben!

Es geht nicht bloß um Richtig oder Falsch beim Filmemachen. Ich glaube, dass es so viele gute Zugänge gibt, wie es gute Filme gibt. Hat »2001« einen Plot? Ja. Er ist extrem langsam, sehr flüchtig, schwer fassbar und undeutlich, aber er hält unser ­Interesse die ganze Zeit über wach. Ich bemühe mich, dass ein Plot immer auch genauso sehr eine emotionale Geschichte ist. Wenn mir diese Balance gelingt, dann habe ich mit Erfolg ­gearbeitet. Ich habe Leute auch schon sagen hören, dass meine Filme keinerlei Handlung besäßen – aber wenn dir all das, sagen wir, binnen zwei Monaten im richtigen Leben zustoßen würde, dann wären das ziemlich volle zwei Monate!

Eine meiner Lieblingsszenen im Film ist die, in der Lee und Patrick sich dazu entschließen, ein paar alte Jagdgewehre gegen einen neuen Motor für ihr Fischerboot einzutauschen.

Vielen Dank, die gefällt mir auch. Die Requisiteure trieben diesen schönen Gewehrschrank auf, und das war's dann auch schon. Das ist interessant beim Filmemachen, man weiß vorher nie genau, was man wirklich alles braucht. Ursprünglich hatte ich vor, noch eine Szene in einem Waffengeschäft zu drehen: Man sieht die beiden durchs Fenster, wie sie die Gewehre verkaufen und das Geld dafür bekommen. Wir haben endlos lange gesucht, um eine geeignete Location zu finden, aber es gibt nicht viele Waffengeschäfte in diesem Teil von Massachusetts. Erst nach Wochen der vergeblichen Suche erkannte ich, dass es diese Szene gar nicht braucht: Lee sagt, was er tun wird, man sieht die Waffen und später das Geld – die Szene im Laden ist einfach total überflüssig. Ich hätte sie am Ende herausgeschnitten, selbst wenn wir eine passende Location gefunden und sie gedreht hätten.

Versuchen Sie, sich Dinge beim Schreiben zu visualisieren?

Mehr und mehr, ja. Bei meinem ersten Film, »You Can Count on Me«, hatte ich nur ganz wenige visuelle Ideen. Sobald man aber selbst einmal Regie geführt hat, weiß man, dass man für alles, was passieren soll, für jeden einzelnen Moment eines Films eine Lösung braucht. Da lernt man schnell, visuell zu denken. Bei »Margaret« habe ich die Mise-en-scène schon von Anfang an mitgedacht... Im aktuellen Fall allerdings wieder weniger, denn ich war ja nicht als Regisseur vorgesehen. Ich habe mir nicht allzu viel überlegt, sondern dachte: Das ist dann Matts Problem. (Lacht)

Das hat Sie vermutlich oft gereut?

Schon, ich dachte: Oh Gott, die fahren so viel im Auto herum, was passiert da währenddessen? Ich kann nicht behaupten, dass ich eine interessante Antwort darauf gefunden hätte, aber das Wetter war prima, der Schnee herrlich, und inzwischen gefallen mir die Autofahrten – obwohl es wirklich sehr viele sind – sogar richtig gut.

Sie haben einen langen Weg hinter sich – vom Dramatiker zum Ko-autor von Blockbustern wie Scorseses »Gangs of New York« oder der Komödie »Analyze This« bis zu diesem schweren Familiendrama...

So lang ist der gar nicht, denn ich versuche in allem, was ich schreibe, stets auch Komisches unterzubringen. Drama und Komödie interessieren mich seit jeher im gleichen Maße. Dass ich mit Drehbüchern für Komödien anfing, war der Notwendigkeit geschuldet, meinen Lebensunterhalt zu verdienen – ich habe das aber nie als längerfristige kreative Tätigkeit betrachtet. Ich schrieb für die Bühne, aber davon konnte ich nicht leben, also fing ich für andere Leute zu arbeiten an. »Analyze This« nennt im Vorspann drei Autoren – einer davon bin ich –, aber Sie hätten die letzte Drehbuchfassung sehen sollen: Da standen insgesamt 14 Namen drauf! Aber das ist ziemlich normal für Hollywood. Egal, jedenfalls schrieb und verkaufte ich das Skript und hatte für zwei Jahre keine Sorgen mehr – während deren ich mich auf meine Stücke und meine eigene Arbeit konzentrieren konnte.

Haben Sie noch etwas von Ihrem Drehbuch wiedererkannt im Film?

Ja, den Titel. (Pause) Und die verquere Art von Humor. Die grundlegende Idee, dass die Mafioso-Figuren plötzlich alle wie Psychoanalytiker zu sprechen anfangen, stammte zweifellos von mir. Es waren also noch so gewisse Spurenelemente im fertigen Film enthalten.

Stimmt es, dass Sie als Filmemacher ein Autodidakt sind?

Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Niemand ist doch wirklich Autodidakt. Es stimmt, dass ich keine Filmschule besucht habe, aber ich habe einen Hintergrund als Autor und vor allem als Filmkenner. Ich kenne mich aus in der Filmgeschichte, weil ich schon immer viel ins Kino gegangen bin. Ich bin mit den Hollywoodklassikern in Schwarz-Weiß aufgewachsen.

Gab es dafür spezielle Kinos in New York?

Als ich ein Kind war, existierten 15, wenn nicht 20 Wiederaufführungskinos in New York City – das »Little Carnegie«, das »Trans-Lux East«, das »Trans-Lux West«, das »Regency« – das war das beste! –, das »Ziegfeld«, das »New Yorker«, das »Symphony Space« und so weiter – heute sind sie alle verschwunden, mit Ausnahme des »Film Forum«, das anstelle des »Regency« kam. Ich bin mit diesen großartigen Filmen groß geworden und glauben Sie mir: Es macht einen Riesenunterschied, wenn Sie »Casablanca« auf großer Leinwand und mit einem Publikum zusammen sehen, das bei jedem Schmäh von Claude Rains mitgeht und lacht. Es ist eine Schande, dass diese Filme heute oft am Computer oder am Smartphone geschaut werden.

Das heißt, auch Ihr Film soll im Idealfall auf der Leinwand gesehen werden?

Ja, dafür ist er gemacht. Natürlich weiß ich, dass die meisten Leute ihn anders, auf kleinen Monitoren, sehen werden, aber das ist auch das Schöne an den ganzen Filmfestivals: Sie erlauben, einen Film wenigstens einmal unter optimalen Bedingungen anzuschauen.

Und es lohnt sich, bis zum Abspann sitzen zu bleiben, weil man dann erfährt, dass Sie einen Kurzauftritt im Film hatten...

Gut beobachtet. Ich bin der Typ, der seinen Senf dazugibt, als Lee und Patrick lautstark einen Streit auf einem Parkplatz austragen, und meint: »Tolle Erziehungsmethode!«

Das war nicht Ihre erste Rolle. In »You Can Count on Me« haben Sie einen Seelsorger gespielt, in »Margaret« einen gestressten Hollywoodautor – hat es mit diesen Gastauftritten eine besondere Bewandtnis?

Nein, das ist nur ein Spaß. Leider komme ich nicht oft zum Spielen. Es hat mir immer schon Spaß gemacht, aber ich wollte nie Schauspieler werden von Beruf, und nach der Highschool dachte ich, dass ich wohl nie wieder die Gelegenheit haben würde, auf einer Bühne zu stehen. Dann bin ich gemeinsam mit Matthew Broderick, meinem ältesten und besten Freund, einer New Yorker Theatergruppe beigetreten; zuallererst natürlich als Autor, doch hin und wieder bin ich auch in Stücken anderer aufgetreten. Nun, und dann habe ich angefangen, mir zum Spaß selbst kleine Parts in meine Filme zu schreiben. Außer mir kenne ich leider keinen Regisseur, der mich besetzt!

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt