Kritik zu Wanja

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Anne Ratte-Polle spielt in Carolina Hellsgårds Debütfilm eine frisch aus dem Gefängnis Entlassene, die ein neues Leben anfangen möchte

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Sie hat wohl längere Zeit im Knast gesessen. Sieben Jahre wegen Bankraubs, antwortet sie dem Inhaber der Tierhandlung, bei dem sie ein Praktikum beginnt, auf dessen neugierige Frage. Das kann man glauben oder nicht. Ohnehin ist sie den Job bald wieder los, sie soll Geld aus der Kasse genommen haben. Gezeigt wird das nicht, aber es ist eine von vielen Handlungs- respektive Verhaltensmöglichkeiten, die Carolina Hellsgård, die mit »Wanja« ein eigenes Drehbuch verfilmt, ihrer Titelfigur offenhält. Wanja jedenfalls wandert weiter zum nahegelegenen Trabrennstall und heuert dort an. Freilich könne sie reiten, sagt sie dem Verwalter. Freilich stimmt das nicht.

Sie lässt sich nicht in die Karten schauen. Freundlich ist sie auch nicht, eigentlich ist sie noch nicht einmal höflich. Zum Ausgleich ist sie die ziemlich ideale Verkörperung des Adjektivs »unnahbar«, und verkörpert wird sie von dem schauspielerischen Synonym von »Unnahbarkeit«: Anne Ratte-Polle. Die hat seinerzeit in Romuald Karmakars schlimm unterschätztem »Die Nacht singt ihre Lieder« den unvergessenen, viel zu früh verstorbenen Frank Giering so lange verächtlich angeschaut, bis der sich aus dem Fenster stürzte. Anne Ratte-Polle kann so was: dastehen, schauen, einschüchtern. Denn Angriff ist immer noch die beste Verteidigung, vor allem wenn man so verwundbar ist und Angst hat.

Was man Wanja glauben kann: Sie hat eine längere Drogenkarriere hinter sich, ist jedoch seit drei Jahren nüchtern – deswegen wird ihr Emma gefährlich, die sie auf dem Pferdehof kennenlernt. Emma trinkt, kifft, dröhnt sich mit Ketamin zu, nimmt, was sie kriegen kann; sie ist 16, Wanja 40, sie könnten Mutter und Tochter sein. Und Wanja, die tatsächlich irgendwo eine Tochter hat, die den Kontakt zu ihr abbricht, will Emma helfen und riskiert damit, es lässt sich denken, den Rückfall.

Die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist bestimmt von Projektion und Übertragung, von uneingestandenen Hoffnungen und unausgesprochenen Wünschen. Es ist ein Geflecht aus subjektiver Emotion, individueller Wahrnehmung, sozialer Prädisposition und gesellschaftlicher Erwartung, dessen ganze Komplexität von der Einfachheit der filmischen Form erst zu voller Geltung gebracht wird. Anne Ratte-Polles von großer Nüchternheit geprägte Charakterisierung trifft auf Hellsgårds langen, simpel gehaltenen Einstellungen vertrauenden Inszenierungsstil und auf den von winterlicher Unwirtlichkeit bestimmten, vollkommen unspektakulären norddeutschen Drehort.

Einige wenige wohlgesetzte narrative Irritationen – Wie kommen die Enten in die Badewanne? Was machen die Ork-Gestalten im Wald? Geschieht der Raubüberfall auf die Imbissbude tatsächlich? – verstärken nicht nur die Vorstellung einer nach langem Gefängnisaufenthalt fremd gewordenen Wirklichkeit, sondern lassen auch die Idee der drogeninduziert verzerrten Wahrnehmung mitlaufen. So oder so vermitteln sie Wanjas Perspektive, den Blick einer eigentlich der Welt Zugewandten, die gerne endlich aus der Deckung kommen und angenommen werden würde.

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