Kritik zu Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung

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Der Regisseur Alireza Khatami erzählt eine Geschichte über die »Verschwundenen« lateinamerikanischer Diktaturen, die aber auch in seiner Heimat spielen könnte

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Auf den ersten Blick erscheint die Beschäftigung des namenlosen Alten gar nicht so ungewöhnlich. Obwohl er pensioniert ist, hält er auf einem Provinzfriedhof in irgendeinem lateinamerikanischen Land, vermutlich Chile, Gräber instand. Die Ruhe des alten Mannes, gespielt von dem spanischen Darsteller Juan Margallo, wird immer wieder aufgestört von blutrünstigen Milizen. Sie kommen, um in den Kühlkammern des Leichenschauhauses die Körper vermeintlicher Terroristen verschwinden zu lassen, die auf Demonstrationen erschossen wurden. Erinnerungen an die Militärdiktatur unter Pinochet werden wach, doch diese Assoziationen werden nur angedeutet. Der Film hat zwar einige lose Enden, doch seine elliptische Erzählweise nimmt man nicht als Makel wahr.

Die Idee für seinen Debütfilm kam Regisseur Alireza Khatami, 1980 in Iran geboren, durch eine tragische Fußnote des Iran-Irak-Kriegs. Wie unzählige andere Soldaten verschwand damals auch der Sohn von Khatamis Nachbar. 15 Jahre lang hofften die Eltern, dass er noch am Leben sei. Um diese Geschichte erzählen zu können, hat der iranische Autorenfilmer sie nach Südamerika verlegt und von Latino-Darstellern spielen lassen. Ein Kunstgriff, der erstaunlich gut funktioniert. »Los versos del olvido« – wörtlich: die Strophen der Erinnerung – erzählt von einer traurigen alten Frau. Seit vielen Jahren kommt sie auf den Friedhof, weil dies der einzige Ort ist, wo sie um ihre vermisste, vermutlich ermordete Tochter trauern kann. Als die ­Milizen die Leiche einer erschossenen jungen Frau im Kühlfach zurücklassen, arrangiert der Friedhofswärter mit einigen Tricks ein offizielles Begräbnis: Auf diese Weise kann die alte Dame sich endlich von »ihrer« Tochter verabschieden.

Die gefühlvolle Geschichte einer nachträglich ermöglichten Trauerarbeit ist eingesponnen in ein dichtes Netz fantasievoller Assoziationen. Es geht um gestrandete Wale und korrupte Bürokratie, um das Gedenken an die Toten und an die Bedeutung von Eigennamen. Vor allem aber erschließt diese Reise durchs Labyrinth der Erinnerungen einen ganz eigenen filmischen Raum: So begibt der Friedhofswärter sich einmal ins Aktenarchiv im Keller des Leichenschauhauses, in dem es keine Elektrizität gibt. Da das Archiv recht umfangreich ist, sichert er seinen Rückweg mit einem »Ariadnefaden«. Als die paramilitärischen Mörder sich später einmal ohne Sicherheitsvorkehrung ins Archiv wagen, erleben sie eine Überraschung.

Mit solchen wunderbar unaufgeregten Szenen schlägt Khatami eine Brücke zwischen iranischer Poesie und dem magischen Realismus lateinamerikanischer Erzähler. Ihm gelingt ein melancholisch-meditativer Film voll skurrilem Witz. Der junge iranische Regisseur verbeugt sich vor Theo Angelopoulos, Franz Kafka und Terry Gilliam. Diese heterogenen Einflüsse verdichtet er zu einem in sich stimmigen Trip, der die Grenze zwischen Fantasie und Realität neu auslotet und durch seine diskrete Bildgewalt überzeugt. Ein stilles Meisterwerk.

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