Kritik zu Le Havre

© Pandora

Nach fünf Jahren Pause kehrt Aki Kaurismäki ins Kino zurück. Mit einem wundervollen Retromärchen über herzensgute Melancholiker, smarte Migrantenkids und clandestine Hilfsnetzwerke

Bewertung: 5
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4
4 (Stimmen: 2)

Ein Wunder wird geschehen. Und das ist noch nicht alles. Im Kaurismäkiville von Le Havre geht eine Sonne auf, so leuchtend und warm, wie man sie sonst nur aus den Filmen von Douglas Sirk kennt. Dann, wenn alles noch einmal gut gegangen ist, der Kirschbaum in übervoller Blüte steht, alle Betrogenen, Verstoßenen und Unterdrückten sich mit bitterem Lächeln aufs Neue mit dem System arrangieren. Doch das unverhoffte Leuchten in Le Havre ist keiner hintergründigen Resignation geschuldet, die im schmachtenden Dekor und dem Hollywoodglück der 50er aufzugehen hat. Es steht tatsächlich und aufrichtig für einen Triumph. Nämlich für den Sieg populärer Leinwandmythen über die Grauwerte des wirklichen Lebens.

Le Havre ist ein zärtliches, für den finnischen Regisseur geradezu beschwingtes Märchen vom guten Menschen, der seine kleine graue Welt einen Tick besser macht. Prinzessinnen, Schlösser oder Talerregen gibt es bezeichnenderweise nicht. Das würde auch nicht passen zu Helden wie dem Schuhputzer Marcel Marx (wie die gleichnamige Figur aus Das Leben der Bohème von André Wilms gespielt), der in einem früheren Leben als Schriftsteller »eher künstlerisch« erfolgreich war – wie er einmal in einem dieser herrlich antiquierten und bis aufs semantische Skelett abgespeckten Dialoge von sich gibt. Als Schuhputzer könne er der Gesellschaft besser dienen. Und so wie er dabei mit leer geräumter Miene ins Publikum schaut, können nur Herzen aus Stein aus seinem Werdegang eine soziale oder menschliche Niederlage lesen.

Mit den Schuhen wendet der Film von Beginn an seinen Blick auf den Boden harter Realtäten. Das beschauliche Leben des Schuhputzers, das sich bislang im trauten Heim bei seiner liebevollen Ehefrau Arletty (Kati Outinen), bei den Ausgängen mit seiner Hündin Laika und den Besuchen in seiner Eckkneipe abspielte, nimmt eine neue Wendung, als er auf Idrissa (Blondin Miguel) trifft. Der afrikanische Flüchtlingsjunge hält sich an den Quaimauern im Wasser versteckt. Über den Rand seiner Brotdose erblickt Marcel das durchnässte Kind. Eigentlich ändert sich die Mimik des Schuhputzers nicht merklich. Vielleicht stolpert der Rhythmus des Wimpernschlages einmal, vielleicht aber auch nicht. In diesen mikroskopisch kleinen Momenten jedenfalls wendet sich die Geschichte von Marcel, dem genügsamen Exkünstler, ihrer eigenen wunderbaren Überhöhung zu. Er nimmt den Jungen bei sich auf, gibt sich mit zweifelhaften Erklärungen als sein Onkel aus und setzt zusammen mit seiner Frau, einer Gemüsehändlerin und einem Kioskbesitzer Himmel und Hölle in Bewegung, damit Idrissa seine Weiterreise nach London antreten kann.

Guter Wille und eine abenteuerliche Beharrlichkeit, vielleicht ist das der einzige Überschuss im Leben von Kaurismäkis Müllmännern, Kassiererinnen, Fließbandarbeitern oder Nachtwächtern. Lauter tapfere und bodenlos melancholische Sinnsoldaten, die rauchen, trinken und schweigen. Mit nichts in den Händen als simpler Menschenliebe stemmen sie sich gegen die brutalen Effekte einer wirtschafts- und sozialdarwinistischen Weltordnung. Und dieses Mal werden sie von Kaurismäki belohnt. Das Kind kommt davon, seine Helfer auch.

Wenn es so etwas wie eine Utopie in Kaurismäkis Werk gibt, dann ist es der Versuch, gerade in den märchenhaften Gegenwelten des Kinos etwas über das Leben selbst zu erfahren. Deswegen überzieht er seine Verlierer mit Glamour und lässt sie auch in noch so schäbigen Hafengegenden die Weite einer freien Welt mit freien Menschen spüren. Deswegen haben Armut und Stummheit in seinen Filmen dieses unvergleichliche Pathos und bleiben dennoch so wahr wie die durchgelegenen Matratzen in den Auffanglagern.

Le Havre, nicht gerade ein Traum von einer bunten kosmopolitischen Hafenstadt, geht mit seiner Schrulligkeit perfekt ein in die typischen Kaurismäki-Settings aus nostalgischen Blau- und Grüntönen, die immer wieder ein vorwitziges Rot in irgendeinem Detail durcheinanderrüttelt. Hier und da kommt auch einmal eine Frucht ins Bild, die in Gelb oder Orange von fernen Ländern erzählt. Ganz so, als erfülle Kaurismäki sich selbst und dem Publikum einen schönen Traum: von der Leuchtkraft des Kinos.

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