Kritik zu In ihren Augen

© Camino

Er habe einen Film über verletzbare Figuren in einer hartgesottenen Geschichte drehen wollen, sagt Regisseur Juan José Campanella, der für sein Werk den Oscar für den besten Auslandsfilm erhielt

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Unter den am Ende vielleicht doch nicht so zahlreichen Berührungspunkten zwischen dem Melodram und dem Kriminalfilm ist der schönste gewiss die Aufmerksamkeit. In beiden Genres ist sie eine moralische Kategorie. Sie ist das Unterpfand des Gelingens der Liebe und der Ermittlungsarbeit. Erst wenn sie geteilt ist, schürt sie Zweifel und besiegelt das Scheitern. Ihr endgültiger Maßstab jedoch ist die Erinnerung.

Mit hoffnungsvoller Melancholie erzählt Juan José Campanella vom Fortdauern der Vergangenheit. Die Zeitebenen überlagern sich: in der Tondramaturgie, im Wechsel der Bildschärfen und im Schicksal der Charaktere. »In ihren Augen« ist ein Kriminalfilm mit zutiefst romantischen Zügen. In seinem Zentrum steht ein Fall, der eigentlich aufgeklärt ist, aber keinen der Beteiligten loslässt. Der pensionierte Justizbeamte Benjamín Espósito (Ricardo Darín) will einen Roman schreiben, in dem er die zentrale Episode seines Lebens erneut aufleben lassen will. Vor einem Vierteljahrhundert jagte er zusammen mit seinem Kollegen Pablo (Guillermo Francella) einen Mörder und Vergewaltiger. Ihre engste Verbündete war damals die junge Richterin Irene (Soledad Villamil), der es einen Schock versetzt, als Benjamín den alten Fall wieder aufrollen will. Die zerstreute Jovialität, mit der sie Benjamin bei ihrer Wiederbegegnung abwimmelt, lässt erahnen, dass sie mehr von sich weisen will, als nur eine berufliche Altlast.

Das Verbrechen hat damals einen Resonanzraum der Gefühle eröffnet, in dem der Ermittler, die Richterin und der Witwer noch immer eingeschlossen sind. Es hat unentrinnbare Bande zwischen ihnen geschmiedet. Die ersten Begegnungen Benjamíns mit Ricardo (Pablo Rago), dem Mann des Opfers, sind Zwiegespräche zweier schüchterner Männer, bei denen ein lebenslanger Pakt geschlossen wird. Benjamín und sein Kollege Pablo sind einander bis zum Ende unverbrüchlich aufopferungsvolle Freunde. Mit Irene verbindet Benjamín eine heroisch uneingestandene Liebe.

Als Veteran der US-Serie »Law & Order« ist Campanella vertraut mit Kriminalfällen, hinter denen noch etwas ganz anderes steckt. In In ihren Augen herrscht eine weniger raffinierte als vielmehr gewissenhafte Ökonomie der Motive: Züge, Fotos, offene und geschlossene Bürotüren gewinnen eine je neu justierte Bedeutung. Sein langsamer, umsichtiger Erzählrhythmus ist dem Film unverzichtbar, denn im Kern handelt er von den Bedingungen der Wahrnehmung. Die revidierte Perspektive, aber auch das Fortwirken des ersten Blicks offenbaren die wahren Zusammenhänge. Benjamín, Pablo und Irene ergänzen sich: Was dem ersten entgeht, fällt dem zweiten auf. Wie der unverschämte Blick eines Verdächtigen auf Irenes Dekolleté zu dessen Geständnis führt, ist ein dramaturgisches Kabinettstück. Und die spektakuläre, nächtliche Helikopterfahrt zum Tomás-Ducó-Stadion ist kein technisches Bravourstück, das sich selbst genügt. Es findet sein Pendant im rätselhaften Verharren der Kamera auf den Reihen der Fußballfans, unter denen schließlich, mit magischer Zielstrebigkeit, ein Verdächtiger aufgespürt wird.

Campanella liebt Plansequenzen, deren abruptes Ende dem Rhythmus eines Lebens entspricht, das plötzlich angehalten wird. Die Souveränität seiner Helden ist vorbehaltlich. Ihr Handlungsspielraum ist in den ausgesuchten Tableaus des großen Kameramannes Félix Monti extrem begrenzt. Oft drängt er sie an den Rand seiner Cinemascope-Kompositionen, mitunter nehmen sie nicht mehr als ein Zehntel des Bildraums ein. Darin spiegeln sich die politischen Machtverhältnisse. Die Mechanismen der Repression im korrupten Justizapparat sind sacht grundiert im Klima eines Landes, das sich auf den Militärputsch hinbewegt, der später die Diktatur begründet. Hier kündigt Campanella jedoch bisweilen seinen Erzählgestus der Subtilität auf, um die Vergeltung in die Sphäre der privaten Moral zu verlagern. Er will einen allegorischen Heilungsprozess schildern, dessen Ausgang eine Spur zu affirmativ ausfällt. Die Tragik, die der Katharsis innewohnt, entschärft er. Die Lösung, die er findet, besitzt dennoch ihre romantische Logik: Sie ist gerechtfertigt durch den Blick Ricardo Darins, dessen Augen so erwartungsvoll funkeln dürfen, weil in ihnen ein großes Versprechen liegt.

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