Aida Masae

Setsuko Hara und Ryū Chishū in »Die Reise nach Tokyo«, 1953

Wir verzeihen es Filmstars eigentlich nicht, wenn sie fahnenflüchtig werden, wenn sie kurzerhand das Kino aufgeben und sich brüsk unserer Bewunderung entziehen. Es erscheint uns wie die einseitige Kündigung eines Vertrages, den wir für verbindlich hielten. Genügte ihnen unsere Liebe nicht?

Der japanischen Schauspielerin Setsuko Hara jedoch konnte man leichten Herzens verzeihen. Sie war die Muse Yasujiro Ozus, trat in sechs seiner Filme als opferbereite Tochter auf und unterlief dabei souverän sowohl traditionelle Geschlechterrollen wie die Anforderungen, die gemeinhin an feministische Heldinnen gestellt werden. Als sie sich 1963, nach Ozus Tod, unwiderruflich aus dem Filmgeschäft zurückzog, löste das große Bestürzung in Japan und dem Rest der Welt aus. Die Schauspielerei habe sie nie wirklich geliebt und den Beruf nur gewählt, um ihre Familie zu unterstützen, gab sie bei einer Pressekonferenz zu Protokoll. Ihr Publikum wusste es besser: Wenn das der Fall gewesen sein sollte, wie hätte sie ihr Metier dann mit solcher Hingabe ausüben können? Vielleicht stimmten ja die Gerüchte, sie ziehe sich zurück, da ihr Augenlicht nachließ. Auch das Trauma, den Unfalltod ihres Bruders kurz vor Beginn der Dreharbeiten zu Ozus »Reise nach Tokio« mit eigenen Augen erleben zu müssen, ließ sich als Erklärung heranziehen. Indes, sie nahm die Arbeit am Film mit jener entschlossenen Loyalität in Angriff, die ihre Leinwandcharaktere auszeichnete.

Auch ihre Mitwirkung an glühenden Propagandafilmen während des Krieges beschädigte Setsuko Haras Ruf nicht nachhaltig. Gerade erst in diesem Sommer warf eine Retrospektive in New York ein Schlaglicht auf dieses verschwiegene Kapitel ihrer Karriere, in dem ihre Figuren nicht nur tatkräftig an der Kolonisierung der gerade eroberten Mandschurei teil hatten. Ihr Engagement brachte sie auch in mulmige Nähe zu den Achsenmächten. Joseph Goebbels soll ihr höchste Bewunderung gezollt haben, als sie zu Dreharbeiten nach Babelsberg kam. Den dabei entstandenen Film von Arnold Fanck, »Die Tochter der Samurai«, würde ich dennoch gern einmal sehen; nicht nur wegen der Szene, in der sie sich angeblich in einen Vulkan stürzt.

Überstrahlt wurden diese Episoden von dem Filmzyklus mit Ozu, der zu den wundervollsten Symbiosen zwischen einem Regisseur und einer Hauptdarstellerin gehört. Ihre lächelnde, wehmütige Sanftmut konnte einem das Herz brechen. Mein Lieblingsfilm der Beiden ist »Später Frühling«, mit dem 1949 ihr Pakt besiegelt wurde. Aber mindestens ebenso berückend ist sie als im Krieg verwitwete Schwiegertochter, die in »Reise nach Tokio« als Einzige ein herzliches Interesse am Besuch der greisen Eltern bekundet. Wenn Haras Figuren um der Väter willen auf das eigene Lebensglück verzichteten, geschah dies aus freiem Willen. Die Rolle der unterwürfigen Ehefrau verlockte sie nicht. Sie fanden in der Demut eine ungekannte Würde und Selbstbestimmung.

Es wäre ungerecht, ihre Karriere auf die Begegnung mit Ozu zu reduzieren. In Kurosawas »Kein Bedauern für unsere Jugend« verlieh sie dem Typ der modernen Frau, die nach dem Krieg den Aufbruch in eine neue Gesellschaft wagt, hinreißend Kontur. In seiner Adaption von Dostojewskis »Der Idiot« zog sie ganz unverhoffte Register, spielte eine Verführerin von durchaus stürmischem Temperament. Vor allem die Filme, die sie mit Mikio Naruse drehte, darunter »Die Mahlzeit« und »Das Geräusch der Berge«, sind mir ungemein teuer. Darin gelingt ihr ein kühner Spagat. Während Ozu die Auflösung der Familienstrukturen stets als Verlust begreift, erscheinen sie bei Naruse als Befreiung. Sie war trittsicher in beiden Universen, gab der unterschiedlichen Weltsicht gleichermaßen bestrickend Ausdruck.

Den Rückzug ins Privatleben vollzog sie unerbittlich. Nie wieder gab der größte weibliche Star des japanischen Kinos danach Interviews oder stand Fotografen zur Verfügung. Sie wollte wieder zu Aida Masae werden, als die sie vor 95 Jahren in Yokohama geboren wurde. Mehr als fünf Jahrzehnte lebte sie abgeschieden in dem Küstenort Kamakura; nicht weit von dem Tempel entfernt, in den Ozus Urne steht. Ihr Abschied aus der Öffentlichkeit war so gründlich, dass erst gestern bekannt wurde, sie sei bereits am 5. September an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben.

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