Filmfest Hamburg: Die Menschen hinter den Schlagzeilen
»Weiner« (2016). © dogwoof documentary
Der Rote Teppich für den Eröffnungsfilm, so beschrieb es Festivalleiter Albert Wiederspiel in einem Interview, sei »eine Lokomotive, die wir brauchen, der zieht Aufmerksamkeit auf sich, der lockt Medien. Davon profitieren die anderen 165 Filme.« Mit einem Budget, das erheblich unter dem von München, dem anderen großen deutschen lokal orientierten Filmfestival, liegt, geht es in der Hansestadt weniger um internationale Stars und Glamour, sondern um die Filme, darunter zahlreiche Titel, die in Cannes, Locarno und Venedig Premiere hatten, aber noch ohne deutschen Verleih sind – nur 25 von 166 werden demnächst in den hiesigen Kinos zu sehen sein.
Auf seine Auswahl kann Hamburg zu Recht stolz sein. Es lohnt sich auch für den Filmliebhaber, der die ausländischen Festivals nicht besuchen kann. Für den Glamour sorgen hier übrigens die lokalen Produktionen, zu deren Premiere die Filmschaffenden gerne kommen. Das ist oft ein Heimspiel, entsprechend hatten drei ausverkaufte NDR-Produktionen mit zwölf bzw. elf Gästen zahlenmäßig die Nase vorn.
Statt Blumen und Schokolade gab es auch diesmal für die Filmschaffenden auf der Bühne nur eine Urkunde. Ging das dadurch eingesparte Geld im vergangenen Jahr an Flüchtlingsprojekte, so wurde es diesmal zur Unterstützung des in Russland inhaftierten Filmemachers Oleg Sensov verwendet.
Den amerikanischen Kongressabgeordneten Anthony Weiner dürften die meisten nur aus den Schlagzeilen kennen, die er machte, als er 2011 ein freizügiges Foto versehentlich an all seine Twitter-Follower (immerhin 56.000) schickte, statt nur an jene Frau, mit der Online-Sex hatte. Als er 2013 für das Amt des New Yorker Bürgermeisters kandidierte, wobei der Film »Weiner« ihn beobachtet, tauchten kurz vor dem Finish weitere Sexbilder auf. Trotzdem kommt er nicht nur als charismatischer, sondern in seinen politischen Auffassungen als unterstützenswerter Politiker rüber. Die zweite Protagonistin des Films ist seine Ehefrau Huma Abedin, Beraterin von Hillary Clinton, die dadurch zusätzlich zwischen die Stühle gerät.
Trockener, aber ähnlich aufschlussreich war ein zweiter Film über den Menschen hinter den Schlagzeilen. In »The Confession« tritt Moazzam Begg vor die Kamera. Der in Birmingham geborene Sohn eines pakistanischen Bankers berichtet, wie er sich zuerst in Bosnien, dann in Afghanistan selber ein Bild von der Verfolgung der Muslime machen wollte, sich dabei radikalisierte und schließlich als Gefangener in Guantanamo landete.
Das große Hollywood-Kino war in Hamburg nicht vertreten, wohl aber bemerkenswerte Indie-Filme: Michael O'Shay zollt in »The Transfiguration« George A. Romeros »Martin« Tribut und konzentriert sich auf seinen 14jährigen Protagonisten, einen jungen elternlosen Farbigen, der von Vampiren besessen ist, während Kelly Reichardt in »Certain Women« auf der Basis von Kurzgeschichten einer lokalen Autorin drei Episoden um Frauen zwischen Selbstbehauptung und Einsamkeit im ländlichen Montana erzählt. Die anhaltende Qualität des iranischen Kinos zeigte Behnam Behzadi mit »Inversion«: inmitten eskalierender Auseinandersetzungen zwischen Geschwistern darüber, wer sich um die lungenkranke Mutter kümmern und künftig mit ihr außerhalb der smoggeplagten Hauptstadt Teheran leben soll, geht es auch um die wiederholten Begegnungen der Protagonistin mit einem Mann, der um sie wirbt – durchaus erotische Momente, ungewohnt im iranischen Kino.
Von dem Druck, unter dem sein Protagonist steht, handelte auch der neue Film des Rumänen Christian Mungiu: in »Graduation« (Bacalaureat) setzt ein Arzt alles daran, seiner Tochter ein Auslandsstudium zu ermöglichen. Ein unvorhergesehenes Ereignis vor dem Examen gefährdet seine Pläne und lässt ihn immer tiefer in einem Sumpf von Korruption versinken. Dass der Zuschauer sein Handeln nachvollziehen und billigen kann, macht den Film so bemerkenswert.
P.S. 1: Auch in diesem Jahr wurde (nicht zum ersten Mal) der Douglas-Sirk-Preis nicht vergeben. Der soll an einen noch arbeitenden Filmschaffenden gehen, dessen jüngster Film Deutschlandpremiere in Hamburg hat. Vielleicht sollte das Festival seine im letzten Jahr verkündete Einschränkung (»kein Schauspieler und kein Franzose, um uns nicht zu wiederholen«) zurücknehmen und für künftige Jahre den französischen Regisseur Christoph Honoré im Auge behalten, dessen jüngster Film einige Wochen zuvor in Oldenburg lief. Der hätte sich auch in Hamburg gut gemacht, zudem hat sich Honoré mit einer Würdigung Sirks auf einer französischen DVD qualifiziert.
P.S. 2: Ihre Eintrittskarten konnten die beim Filmfest Akkreditierten in diesem Jahr erstmals nur online bestellen. Denke ich an die armen Kollegen, die ohne Computer angereist waren und sich nun im Festzelt tagtäglich mit zwei eher unwilligen, langsam reagierenden Notebooks mit fragiler Internetverbindung herumschlagen mussten, kann ich mir vorstellen, dass sie sich dabei ähnlich fühlten wie der Protagonist des jüngsten Ken Loach-Films, den die Arbeitslosigkeit zwingt, online die Formulare des Arbeitsamtes auszufüllen.
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