Ein Geisterfilm

»The Day the Clown cried« (1972)

Bei einer Diskussion mit amerikanischen Studenten wurde Marcel Ophüls in den 70er Jahren einmal mit einer Frage von hohem Verlegenheitspotenzial konfrontiert, auf die er eine listige Antwort fand. Es sei ja schön und gut, dass er sich mit den Kriegsverbrechen der Nazis beschäftige, gab eine Studentin zu Bedenken und wollte wissen, warum er sich in seinen Dokumentarfilmen denn nicht für die Frauen- und die Bürgerrechtsbewegung stark machen würde?

»Because I'm a lazy fuck« lautete Ophüls' Replik, die ich hier aus Gründen des Jugendschutzes mal mit »Weil ich ein fauler Sack bin« übersetzen will. Wer nur eine leise Ahnung von den Widerständen und Mühen hat, denen der Regisseur seine Projekte abtrotzte, wird den den erstaunten Sarkasmus dieser Selbstbezichtigung ermessen können. Der deutsche Dokumentarist Eric Friedler hingegen dürfte bislang von solchen Vorwürfen verschont geblieben sein, denn die Liste seiner Fernseharbeiten verrät ein breites Spektrum thematischer Zuständigkeiten. Er hat Filme über Erich Honecker, die argentinische Militärdiktatur das Us-Engagement in Afghanistan und die Verstrickung der Industriellen-Dynastie Quandt in der Nazizeit gedreht. »Aghet – Ein Völkermord«, sein Film über den Genozid an den Armeniern, hat es sogar ins Kino geschafft. Seine Arbeiten bereitet er in der Regel von langer Hand vor, sie sind das Resultat ausgiebiger Recherchen.

Der Gegenstand seiner neuesten Dokumentation, die am Mittwoch spätabends in der ARD lief, hat mich dennoch verblüfft: In »Der Clown« geht er der Frage nach, weshalb Jerry Lewis' »The Day the Clown cried« nie in die Kinos kam. Seit mehr als vier Jahrzehnten ranken sich um dieses Filmprojekt Mythen und Legenden, entzünden sich an ihm die Phantasmen von Kinogängern und Historikern: Neben »I, Claudius« von Josef von Sternberg, "Something's gotta give" von George Cukor, »Die Hölle« von Henri Georges-Clouzot sowie "It's all true" und der Großteil von Orson Welles' späten Projekten gehört er zu dem exklusiven Zirkel unvollendeter Monumente der Filmgeschichte, deren Produktion aus tragischen oder mysteriösen Gründen abgebrochen wurden. Über einige dieser Ruinen gibt es bereits bemerkenswerte Dokumentationen. Friedlers Thema besitzt eine zusätzliche Faszination, weil Lewis' Projekt ein unermessliches Wagnis und eine Pioniertat darstellte: Der Komiker wollte 25 Jahre nach Kriegsende eine Groteske über den Holocaust drehen. Einen solchen Ehrgeiz hätte dem Grimassenschneider damals niemand zugetraut; heute würde man seinen KZ-Film wohl ein vanity project nennen. Aber »The Day the Clown cried« hätte ihn als Filmemacher womöglich in eine andere Sphäre katapultieren können.

Dementsprechend wird er in der ARD-Dokumentation als eines der großen Geheimnisse der Filmgeschichte zelebriert. Friedler ruft großartige Zeitzeugen auf, darunter den Pierre Étaix, der eine der Hauptrollen verkörperte oder den ehemaligen Regieassistenten Jean-Jacques Beineix, der später als Regisseur von »Diva« und »Betty Blue« zu einem Meister exquisiter Melancholie avancierte. Die einnehmendsten Talking Heads sind allerdings die sechs noch lebenden schwedischen Schauspieler und der dortige Regieassistent. Darüber hinaus kann Friedler auf atemraubendes Material zurückgreifen: Aufnahmen von den Dreharbeiten (einige Set-Fotos werden nostalgisch als Dia projiziert), zeitgenössische Interviews und Talkshow-Auftritte sowie Sequenzen aus dem Film selbst. Der Regisseur und seine Co-Autorin Silke Schütze enthalten sich eines Off-Kommentars und lassen vielmehr die Beteiligten erzählen. Leider auch Unbeteiligte wie den unsicheren Patron Harry Shearer, der seinerzeit einige Rollen oder gar einen Rohschnitt gesehen haben will. Seinem Eindruck, dass dies kein lustiger Film geworden wäre, darf man immerhin zustimmen. Mit Claude Lanzmann hat auch eine unangefochtene Autorität zu diesem Thema einen kurzen Auftritt, der (womöglich ohne Ansehen des Filmmaterials) zu der Überzeugung gelangt, Lewis habe es am moralischen Rüstzeug für den Stoff gefehlt. Etwas anderes als ein solches Bilderverbot war nicht zu erwarten, denn schließlich darf den Holocaust filmisch nur so darstellen, wie der Regisseur von »Shoah« es tat. Friedler behauptet gar nicht erst, eine Antwort auf die Frage zu kennen, ob »The Day the Clown cried« überhaupt ein guter Film geworden wäre. Diese Zurückhaltung ist ehrenwert.

Die Kürze der Interviewschnipsel ist oft ein Problem. Zwar ist auch mir mittlerweile klar, dass der Rhythmus von Filmdokumentationen, wie wir sie früher beim WDR machten, nicht mehr zeitgemäß ist. Die schnelle Montage von Sound bites nach US-Vorbild ist mittlerweile zur unumstößlichen Regel geworden und lässt sich gewiss auch leichter ins Ausland verkaufen. Aber mitunter stört es doch sehr, wenn charismatische Erzähler zu bloßen Stichwortgebern reduziert werden, die eilig den Platz für den nächsten räumen müssen. Das fällt besonders auf, wenn die Filmkritiker Andreas Kilb und Daniel Kothenschulte dazu verdammt werden, die Aussagen ihres Vorgängers nur mit anderen Worten zu unterstreichen. Allerdings gibt es auch einige Perlen unter den Aussagen, wie etwa Beineix' Nachdenken darüber, was es für einen Filmemacher bedeutet, wenn sein Werk nicht fertiggestellt und nicht der Öffentlichkeit vorgeführt werden kann: Das sei so, als ob man vor Gericht stünde, ohne dass es am Ende ein Urteil gäbe.

Trotz aller Kurzatmigkeit, aller Redundanzen und Wiederholungen entfaltet die Montage der Zeugnisse einen ungeheuren Sog. Die Entstehungsgeschichte des Films bzw. die seiner Vereitelung ist aber auch wirklich fesselnd: Lewis' akribische Vorbereitungen, die heroische Zerreißprobe der Dreharbeiten, die betrügerischen Machenschaften des französischen Co-Produzenten, die Selbstzweifel des Regisseurs und seine rätselhafte Flucht aus Schweden. Und es war eine glänzende Idee, die sechs Darsteller in einem Studio in Stockholm zu versammeln, wo sie im Greisenalter noch einmal Schlüsselszenen nachspielen, in die das existierende Material geschickt hinein montiert wird. Etwa nach der Hälfte der knapp zweistündigen Dokumentation lässt Friedler in einem veritablen Theatercoup die Hauptfigur selbst auftreten: Lewis, der in einem ziemlich haarsträubenden Aufzug vor die Kamera tritt (wo hat er bloß diesen Pullunder her?) und vorgeblich zum ersten Mal sein Schweigen bricht über das Trauma, das ihn bis zum heute täglich heimsucht.

Ganz so sensationell, wie der Film behauptet, ist das nicht. Vor ein paar Jahren gab er der Zeitschrift »Entertainment weekly« ein zähes, aber ziemlich aufschlussreiches Interview dazu. Im Internet ist es ohne große Mühe auffindbar. Dort spricht er ganz anders über den Film als hier. Er erweckt den Eindruck, dennoch stolz auf ihn zu sein. Immerhin hat er der Library of Congress eine Kopie überlassen, die jedoch, wenn überhaupt, erst 2025 öffentlich vorgeführt werden darf. Bis dahin werden ihn nur Lewis, sein Vater und sein Agent gesehen haben; seine Mutter weigerte sich strikt dagegen. Das Alles muss nicht stimmen. Es ist fraglich, ob sich aus dem gedrehten Material tatsächlich ein Film montieren lässt. Die Gemengelage ist mithin sogar noch unübersichtlicher, als es Friedlers Film nahelegt. Aber Lewis' Selbstbezichtigung, er sei an dem Thema gescheitert, ist ein faszinierendes Schauspiel. Seine Scham, es nicht durchdrungen zu haben, ist glaubhaft. Eine zufriedenstellende Katharsis stellt dieses Schauspiel nicht dar. Warum sollte es auch? Das Mysterium geht mittlerweile weiter. Im letzten Sommer erschienen in den USA einige Artikel, die suggerierten, eine Vorführung des Films könnte näher rücken. Man würde ihn schon verdammt gern sehen; selbst wenn er an keiner Stelle lustig ist. Bis dahin ist »Der Clown« ein prächtiger Aufschub. Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Sichtung in der Mediathek der ARD empfehlen. Aber dort steht er dafür nicht bereit. Das könnte mit Rechtegründen zusammenhängen. Hoffentlich wird er bald wiederholt. Geisterfilme gibt es schon genug.

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