Hörkino 1

Vielleicht ist ja Orson Welles schuld. Über ihn verliefen gleich zwei Spuren, die mich zu einer neuen, vielleicht auch nur verschütteten Passion führten. Zuerst war es eine arte-Dokumentation über seine spektakuläre Hörspielfassung von "Krieg der Welten", dann ein Radiofeature aus Anlass seines 100. Geburtstags, die mich wieder zu einem Radiohörer werden ließen.

Die Fernsehsendung räumt zwar mit einigen Legenden auf, die sich um die Ausstrahlung ranken – die Massenpanik, die sie 1938 angeblich auslöste, war wohl eher ein Publicitycoup -, sie führte aber vor Augen, welch machtvolles und populäres Instrument der Rundfunk seinerzeit in den USA war. Vielleicht erwischen Sie noch eine Wiederholung zu nachtschlafener Zeit.

Thomas von Steinaeckers Feature "Orson Welles – Ein Puzzle" wiederum ist in seiner Mischung aus technischem Raffinement, ästhetischer Ambition und selbstbewusster Naivität ihrem Gegenstand angemessen. Besonders beeindruckte mich das Fazit, dass der Autor zieht: In all seinen verschiedenen Unternehmungen und Rollen habe sich Welles vorrangig als ein Erzähler begriffen. Im Deutschlandfunk lief überdies ein Gespräch mit dem deutschen Produzenten Jens Köthner Kaul, der an der Restaurierung von The Other Side of the Wind beteiligt ist. Das Crowdfunding dazu (siehe Eintrag "Die Uhr läuft" vom 7.5.) hat allerdings noch nicht wirklich an Fahrt aufgenommen – nach 20 Tagen dümpelt es bei 12 Prozent der Zielsumme vor sich hin. Aber vielleicht lockert ja das Anhören des Beitrags in der DLF-Mediathek hier zu Lande doch noch manchen Geldbeutel.

Es trifft sich, dass in diesem Monat auf rbb Kulturradio eine Sendereihe mit dem Titel "Hollywood on air" gesendet wird. Da sind u.a. Originalhörspiele aus den 50er Jahren zu hören, etwa "On a Country Road", ein kurzer Thriller aus der Serie "Suspense", in dem sich Cary Grant in einer ungewöhnlichen Rolle präsentiert, den Instinkt des Komödianten aber nie ganz verleugnen mag. Es geht um ein Ehepaar, deren Wagen während eines Unwetters auf Long Island stecken bleibt und das fürchtet, in die Hände einer verrückten Serienmörderin zu fallen.

Bislang stand ich in dem Glauben, Hollywoodstars seien nur in Radioversionen ihrer Filme aufgetreten. Diese Engagements dienten sicher vor allem Werbezwecken (immerhin war der Rundfunk mit 40 Millionen treuen Hörern das wichtigste Unterhaltungsmedium seiner Zeit), sie haben aber zugleich ihren eigenen künstlerischen Reiz. Einige davon kannte ich schon, weil sie DVDs als Bonusmaterial beigefügt sind, beispielsweise eine halbstündige Fassung von Casablanca, in der Bogart, Bergman und Paul Henreid einige Wochen nach dem Kinostart ihre Filmrollen für das "Screen Guild Theatre" erneut interpretieren. Auf der DVD von The Letter sind sogar zwei einstündige Fassungen zu hören, die Bette Davis und Herbert Marshall in den 40er Jahren für das "Lux Radio Theatre" aufnahmen, das damals allwöchentlich von Cecil B. De Mille präsentiert wurde. Diese Liveaufnahmen sind hübsche Zeitdokumente, die von kuriosen Mitteilungen der Sponsoren unterbrechen werden (meist Kosmetik-Firmen, beim Cary-Grant-Hörspiel ist es passenderweise ein Hersteller von Autobatterien) und bei denen man mitunter das Publikum lachen oder husten hört. Bei der Abmoderation von "Casablanca" wird 200 Mitgliedern der Französischen Exil-Armee gedankt, die wacker die Marseillaise gesungen haben.

Die Hörspiele verknappen die Vorlagen auf ihr Handlungsgerüst, verdichten es auf deren melodramatischen Höhepunkte. 1943 konnte noch niemand ahnen, wie legendär die erlesen zynischen Dialoge Bogarts aus Casablanca einmal werden würden. Sein "You know, Louis, I think this is the beginning of a beautiful friendship" steht dennoch auch am Ende der Radiobearbeitung. Faszinierend sind die Aufnahmen vor allem wegen des Elans der Darsteller. Das konnte ich am vergangenen Freitag erleben, als rbb die Lux-Produktion von "Gaslight" (Das Haus der Lady Alquist) von 1946 sendete. Ingrid Bergman und Charles Boyer lassen sich noch einmal mit ungeheurer Verve auf ihre Rollen ein, bisweilen glaubt man gar, den Filmsoundtrack zu hören. Die knappe, paraphrasierende Übersetzung ins Deutsche (gesprochen von Leslie Malton) störte mich anfangs, bald verlieh sie der Sendung jedoch ein eigenes, atemloses Tempo.

Nach einer kurzen Recherche eröffnete sich mir im Netz eine regelrechte Parallelwelt dieser wechselseitigen Aneignung von Hollywood und Rundfunk: Auf Seiten wie der OTR NETWORK LIBRARY sind zahlreiche Sendungen des "Lux Radio Theatre", des "Screen Guild Theatre" und ihrer Konkurrenten abrufbar. Höhepunkte der "Suspense"-Serie lassen sich hier aufspüren. Aufzeichnungen von Orson Welles' legendären Hörspielen kann man online unter mercurytheatre.info nachhören. "On A Country Road" ist noch in der Mediathek des rbb kulturradios (übrigens ohne Übersetzung) abrufbar, andere "Suspense"-Episoden mit Richard Widmark und Gregory Peck habe ich verpasst, die finden sich aber womöglich auf oben genannter Seite.

Die Reihe "Hollywood on Air" wiederum ist ein multimediales Projekt, das auf die Initiative der Regisseurin Regine Ahrem zurückgeht. Episoden der 2002 wiederentdeckten Serie "Time for Love", in der Marlene Dietrich als Nachtclubsängerin auf Welttournee diverse Abenteuer erlebt, laufen am morgigen Freitag um 22.04 Uhr auf rbb kulturradio, sie sind aber auch auf CD erhältlich. Ebenso verhält es sich mit Ahrems Hörspielfassung von Robert Siodmaks Die Wendeltreppe, die am Sonntag um 14:05 Uhr Premiere hat und am Tag darauf als CD erscheint. Ebenso wie ihre Version von Hitchcocks Verdacht wurde das Hörspiel mit Kunstkopfmikrofonen aufgenommen, die einen akustischen 3-D-Effekt erzeugen. Wie großartig diese stereoskopischen Klangräume klingen, ist auf den Trailern der "Hollywood on air"-Seite zu hören. Dort gibt es auch ein witziges Making of der Verdacht-Produktion sowie Ausschnitte von Live-Aufführungen (Vier Schauspieler in 12 Rollen!), bei denen sich das Publikum vor allem über die Kunstfertigkeit des Geräuschtechnikers amüsiert. Im Herbst stehen Termine in Wien und in der Berliner "Bar jeder Vernunft" an.

Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für einen alten Freund stieß ich in dieser Woche auf einen weiteren bemerkenswerten Hörfilm: Michael Farins Bearbeitung von M- Eine Stadt sucht einen Mörder, die bereits 2007 im Audio Verlag erschienen ist. Das ist eine kühne Toncollage von Originaltönen aus Fritz Langs Film und einer Neuinterpretation des Drehbuchs, bei der Peter Lorre, Gustaf Gründgens Theo Lingen sich ein Stelldichein neben Axel Milberg und Gert Heidenreich geben. Herausgekommen ist dabei eine rissige Montage der Fragmente, die musikalisch angemessen bizarr begleitet wird. Ich hoffe, sie wird meinen alten Freund gefallen - und er liest diesen Eintrag vorerst noch nicht. Sonst wäre ja die Überraschung perdu.

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