Streaming-Tipp: »Verdacht/Mord«

»Verdacht/Mord« (Staffel 1, 2019). © Henrik Ohsten/Miso Film

»Verdacht/Mord« (Staffel 1, 2019). © Henrik Ohsten/Miso Film

Die verlorene Tochter

Dass in Dänemark erstklassige Serien entstehen, ist kein Geheimnis, schließlich blickten wir schon neidisch auf die Nachbarn im Norden, als dort »Borgen«, »Kommissarin Lund« und »Die Brücke« für Aufsehen sorgten, während bei uns noch auf Event-Zweiteiler gesetzt wurde. Gerade im Krimibereich wurden damals Maßstäbe gesetzt, die – Stichwort »Nordic Noir« – auf der ganzen Welt Spuren hinterließen. Zuletzt richtete sich der internationale Blick eher in andere Länder. Doch »Verdacht/Mord«, mit über einem Jahr Verspätung nun auch bei uns, zeigt, dass das dänische Gespür für starkes Fernsehen längst nicht verschwunden ist.

Christoffer Boe, 2003 für »Reconstruction« in Cannes geehrt und zuletzt mit »Verachtung« auf Thrillerpfaden unterwegs, verantwortet die acht Episoden umfassende erste Staffel als Regisseur und Autor. Und er lässt seine Geschichte gleich mit einem Schock beginnen. Als Ermittler Bjørn (Ulrich Thomsen) in der Gerichtsmedizin aufschlägt, um eine Leiche zu identifizieren, muss er feststellen, dass es sich bei der jungen Frau auf dem Seziertisch um seine eigene Tochter handelt. Das Verhältnis der beiden war seit Jahren zerrüttet, sie hatten lange keinen wirklichen Kontakt mehr, doch der Anblick der toten Christina (in Rückblenden gespielt von Thomsens echter Tochter Alma Ekehed Thomsen) wirft Bjørn um. Nun will er mit aller Macht beweisen, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelt.

Über den Verlauf von 24 Stunden zeigt sich schnell, dass der verzweifelte Vater sein Kind eigentlich kaum gekannt hat, angefangen bei der Tatsache, dass Christina mit einer Frau verheiratet war und in einer unerwartet luxuriösen Wohnung lebte. Und weil sie nicht nur viel im Nachtleben unterwegs, sondern auch in Prostitutions- und kriminelle Geschäfte verwickelt war, stößt der Polizist auf seiner Suche nach Hinweisen auf Mord auf gleich mehrere potenzielle Verdächtige.

Statt das große Panoptikum einer Polizeiuntersuchung aufzumachen, inszeniert Boe den Fall reduziert auf einzelne Begegnungen: Jede Folge besteht aus einer Art Verhör, einem Gespräch zwischen Bjørn und den Menschen, die Christinas Weg in den Tagen und Stunden vor ihrem Tod gekreuzt haben, vom Rechtsmediziner über ihre Ehefrau bis hin zu diversen Kriminellen, einem mutmaßlich korrupten Kollegen und seiner Ex-Frau. 

Wie Boe, unterstützt durch eine starke Kamera und ein ebensolches Sounddesign, über die acht halbstündigen Folgen die Spannung aufbaut und hält, ist bemerkenswert. Dass Bjørn nicht nur unzählige Abgründe im Leben seiner Tochter auftut, sondern auch die Fragen nach der eigenen Schuld an ihrem Unglück ständig neu ausloten muss, klingt bedeutungsschwanger, ist aber geschickt und konsequent umgesetzt. Und schauspielerisch ist »Verdacht/Mord« ohnehin eine Klasse für sich: Die einzelnen Spielpartner, auf die der verlässlich gute Thomsen trifft, sind das Who's Who des dänischen Kinos, von Nikolaj Lie Kaas und Lars Mikkelsen bis Trine Dyrholm und David Dencik.

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