Virtual Reality-Brillen: In der Tiefe des Raums

Virtual reality »The Climb«. © Crytek

»The Climb«. © Crytek

Wenn am 13. Oktober die Virtual-Reality-Brillen für die Playstation ausgeliefert werden, könnte das Geschäft mit den immersiven Spielen Fahrt aufnehmen. Ist das ein neues Medium? Und was bringt es dem Film?

Hier fallen Leute um. Ein Kollege schätzt die Rate auf 2 ½ pro Stunde. Es liegt an der Virtual-Reality-Brille – die kann Orientierungsprobleme erzeugen, vor allem bei diesem Spiel. Das von der Firma Crytek entwickelte »Climb« simuliert eine Freikletter-Tour in einer sonnendurchfluteten Berglandschaft. Man spielt im Stehen mit einer Ausrüstung von Oculus: Brille plus Motion-Controller, der als Ring über die Hand gezogen wird. Das in der Brille projizierte Bild erzeugt den Eindruck, man befinde sich in einem komplett künstlichen Raum; man kann den Kopf drehen, den Blick schweifen lassen – überall Berge, Himmel, Pflanzen. Der Motion Con­troller sorgt dafür, dass das System nicht nur Tasteneingaben, sondern auch Bewegungssignale der Gliedmaßen verarbeitet – die Wii-Konsole hat da Vorarbeit geleistet. Per Klick klammert man sich in »Climb« mit virtuellen Händen am Fels fest. Dann muss man sich mit einer echten Handbewegung an der Wand hinaufziehen. Erst durchflutet mich ein Allmachtsgefühl, und ich klick-ziehe mich locker voran. Dann weiß ich nicht, wo ich greifen soll, schaue nach unten... Panikattacke. Die Augen funken ans Hirn: Tausend-Meter-Absturz! Die Füße, im Bild nicht zu sehen, senden: Alles okay. Umgefallen bin ich nicht, aber ich musste abbrechen.

Virtual Reality, kurz VR, war ein großes Thema dieses Techniksommers, der Spielemessen in Los Angeles und Köln, auch der Funkausstellung. Konnte man die futuristischen Head-Gears auf der Gamescom 2015 noch mit Mühe an einer Handvoll Demos testen, so hatten die Firmen in diesem Jahr bereits an jeder Ecke VR-Spiele im Programm, von der Flugsimulation übers Party-Game bis zum Adventure; allein Sony stellte 17 Titel vor. Die High-End-Brillen der VR-Pioniere Oculus und HTC sind seit Frühjahr erhältlich, zu Preisen zwischen sieben- und neunhundert Euro; von Samsung gibt es eine Handy-VR. Ende Oktober könnte das für Sonys Konsole Playstation 4  entwickelte Modell einen Durchbruch bringen: Es zielt auf eine Kundschaft von 40 Millionen PS4-Besitzern, ist mit 399 Euro deutlich billiger als Oculus und HTC Vive, hat verblüffende Bildqualität und eine clevere Kopfhalterung, die das Gewicht der Brille besser trägt als bei anderen Anbietern. Wenn man das nach zwei viertelstündigen Tests so sagen kann; jedenfalls kam ich hier nicht mit dem typischen VR-Gesicht – Druckstellen unter den Augen – heraus.

Entscheidend für die Wirkung und künftige Entwicklung von VR ist vielleicht weniger das Bild – das inmitten unserer gestochen scharfen Super-HD-Fernsehwelt immer noch pixelig wirkt – als die Eingabetechnik. Wer bei PS4-Spielen wie »Eve« oder dem neuen »Resident Evil« einen Raumgleiter steuern und die Zombies finden will, muss Tastenkombinationen auf dem Gamepad beherrschen. Motion-Controller, die sich intuitiv bedienen lassen wie in »Climb«, öffnen den virtuellen Raum für Nicht-Gamer – die Moderatorin Dunja Hayali etwa, die sich bei einem 24-Stunden-Selbstversuch hat filmen lassen, war vorher nie über »Super Mario« hinausgekommen. Den VR-Spiele-Preis der Gamescom bekam »Wilson's Heart« für Oculus, das in den besten Momenten den User »an seinen Körper erinnert«, wie Adi Robertson im Online-Magazin »The Verge« schreibt: Etwas so Einfaches, wie einen Schlüssel vom Ring zu ziehen und in ein Schloss zu stecken, bekomme etwas Eindringliches, wenn man es schnell machen muss – »bevor eine mysteriöse Kreatur dich angreift«. Zum Holodeck-Feeling trägt auch der Grad der Bewegungsfreiheit bei. Die Playstation-VR ist fürs Sitzen konzipiert. Aber mit der Vive von HTC kann man wirklich einen Raum bespielen, also etwa in einem Space-Shooter Geschossen ausweichen. »Der 13-Jährige, der gestern hier den High Score landete«, erzählt mir ein Assistent, »hat sich herumgerollt, das war eine Show.« Schließlich gibt es VR-Applikationen, die es dem Benutzer erlauben, mit anderen in Kontakt zu treten. Online-Gamer kennen zwar schon das Gefühl, in einer vernetzten Community aufgehoben zu sein, aber was wird das fürs real life tun! Meine Lieblingsvision: der Politiker-Avatar mit freier Software, G20-Gipfel für alle.

Tatsächlich interessieren sich nicht nur Spieleentwickler, sondern auch Film- und Fernsehproduzenten, Industrie und Bildungseinrichtungen für VR. Ein Vertreter von Audi schwärmte auf dem Gamescom-Kongress von virtuellen Showrooms, im Publikum berichtete jemand von einem serious game, mit dem Sanitäter den Notfall simulieren können. Museen arbeiten mit VR, die Pornoindustrie sitzt sowieso im Boot, das Filmfestival in Venedig präsentierte gerade ein VR-Programm. Rund jeder fünfte deutsche Internetnutzer, behauptet eine neue Studie, könne sich den Kauf einer VR-Brille vorstellen: nicht nur um zu spielen, sondern auch für Filme und Serien, Ausstellungen, Konzerte, Sportevents und Online-Shopping.

Maximilian Schenk, Geschäftsführer des Bundesverbands Interaktive Unterhaltungssoftware und Initiator der Gamescom, muss natürlich von Berufs wegen glauben, dass es die Games sind, die »definieren, wie mediales Geschehen heute zu sein hat«. Aber der Befund ist nicht ganz falsch: Spiele, man hat das anfangs an »Pokémon Go« gesehen, befördern und befeuern die Verschmelzung von Fantasieproduktion und Realität, von Mensch und Maschine, mit ihnen stülpt sich das Internet nach außen, wie es Daniel Suarez in seinen Science-Fiction-Romanen beschreibt. Als Freizeitbeschäftigung, als kulturindustrielle Produkte unterscheiden Games sich grundsätzlich von Büchern, Filmen oder Fernsehen – weil sie den Benutzer in »Aktivität« verstricken, bei ihm die Illusion erzeugen, wirksam werden zu können in einer Welt, die ihm tatsächlich immer weniger Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Mit VR-Environments, durch die der User nicht mehr kompliziert navigieren muss, die sich quasinatürlich erschließen und vergessen lassen, dass man sich mit Geräten beschäftigt, könnte Adornos kulturindustrieller Verblendungszusammenhang ein neues, nun ja, Level erreichen, während der Medienrezipient eine weitere Mutation durchmacht: vom Zapper zum Zappler.

Die Vorstellung, Filme mit VR zu schauen, mit dem Tiger über den Ozean in »Life of Pi« zu treiben oder den »Glorreichen Sieben« in den Rücken zu fallen, hat etwas Faszinierendes. Aber das ist dann eben kein klassischer Film mehr, sondern eine mehr oder minder gamifizierte visuelle Experience (niemand wird in einen Zombiefilm eintauchen wollen, wenn er keine Waffe in die Hand bekommt). Auf einem der Gamescom-Kongress-Panels wurde versucht, »Hochkultur und Virtual Reality« zu verbrüdern: Theater sei ja irgendwie schon immer VR gewesen, und umgekehrt könne man mit VR Kunst machen. Auf einem anderen Panel spielten Jugendschutzvertreter die spezifische Wirkung von VR-Spielen herunter: Es handle sich bloß um eine neue Hardware – die Einschätzungen der USK, der Freiwilligen Selbstkontrolle Unterhaltungselektronik, haben »hardwareneutral« zu erfolgen: Es werden nur »Inhalte« beurteilt –, die Technik dürfe nicht per se als jugendschutzrelevant deklariert werden. Da müssen sich die Hersteller also selbst absichern. Auf der Gamescom lief, soweit ich das gesehen habe, unter 13 keine VR. Denn ein Kind, dessen Motorik nicht entwickelt ist, das noch nicht mal die Balance auf einem Fahrrad hält, kann das Durcheinander, das die Brillen im Hirn anrichten, die Dissonanz zwischen visuellen und sensorischen Eindrücken, auch verstörend finden, wenn da bloß knuddelige Minions um die Ecke kommen.

Vertreter des Digitalbusiness, wie Thomas Bedenk von der Agentur Exozet, betonen das Revolutionäre an VR: Sie sei ein eigenes Medium, das neue Arten zu interagieren und mit Raum umzugehen, etabliere. In den 90ern hieß es bereits, wir könnten jetzt in den Cyberspace eintreten, und vielleicht wird es wiederum zwanzig Jahre dauern, bis VR sich entfaltet hat. Aber wenn man einmal so eine Brille mit Touch-Kontrolle probiert hat, wirken Visionen wie die von »Sword Art Online« nicht mehr abwegig. Die jungen Helden dieser japanischen Animeserie benutzen VR so selbstverständlich wie das Smartphone; der Spieler liegt mit der Brille auf dem Bett, Controller sind nicht mehr nötig. Und auf der Reise durch verschiedene Spielwelten entfalten sich Szenarien, die VR in allen Varianten erforschen: als Herrschaftstechnik, als Entertainment – und als Raum, in dem die Spieler Wünsche und Möglichkeiten erforschen, die sie in die Realität zurücktragen. Hey, man wird ja wohl noch träumen dürfen!

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