Paul Verhoeven: Lust For Life

Nach langer Kinopause meldet sich der Regisseur eindrucksvoll zurück
Paul Verhoeven am Set von »Elle« (2016). © MFA+ Filmdistribution

Paul Verhoeven am Set von »Elle« (2016). © MFA+ Filmdistribution

Nach langer Kinopause meldet sich Paul Verhoeven eindrucksvoll zurück: mit einem dunkel funkelnden Juwel, das alle Kategorien von Gut und Böse sprengt. Der Academy war »Elle« erwartungsgemäß suspekt, bei den Golden Globes aber holte das bissige Vergewaltigungsdrama die Preise für den besten Auslandsfilm und die beste Hauptdarstellerin. In diesem Monat ist Paul Verhoeven Präsident der Berlinale-Jury

Vermutlich wusste Paul Verhoeven gar nicht, wie ihm geschah, als sein neuer Film bei den Festivals in Cannes und Toronto keine Kontroversen auslöste. Anstelle des Aufschreis, der seit Anfang der Siebziger beinahe jede seiner Premieren begleitete, gab es diesmal freundliche bis enthusiastische Reaktionen, sogar von Chancen auf den Oscar für den besten fremdsprachigen Film war die Rede (daraus allerdings wird nichts). Dabei ist »Elle«, Verhoevens erste Regiearbeit nach zehnjähriger Kinoabstinenz, keineswegs ein mildes Alterswerk, sondern, ganz im Gegenteil, ein ziemlich gewagtes Frauenporträt und eine radikale Reflexion über Sex und Gewalt, also genau jene Themen, mit denen der Niederländer sein Leben lang so gern provozierte. Eine Protagonistin, die nach einer Vergewaltigung fast beiläufig zur Tagesordnung übergeht, mit wechselnden Partnern beider Geschlechter das Bett teilt und schließlich sehr eigenwillige Vorlieben zum Ausdruck bringt; dazu ein Ensemble aus Fremdgehern und Perverslingen, die ihre morbiden Leidenschaften hinter einer bürgerlichen Fassade verstecken: Ein Feelgood-Movie ist das nicht, auch keine rape comedy, als die der Film schon fälschlicherweise tituliert wurde, eher eine psychopathologische Studie, die hübsch schwarzhumorig daherkommt, niemanden verurteilt und selbst in den tiefsten Abgründen nur Menschliches entdeckt.

»Elle« (2016). © MFA+ Filmdistribution

Wie eh und je lotet Verhoeven in seinem ersten französischsprachigen Film die Grenzen der Moral und des Zeigbaren aus, sein Kino ist prinzipiell streitbar und geradezu lustvoll politisch unkorrekt. Seine Geschichten nehmen keine Rücksicht auf Geschlechter und Randgruppen, kennen keine Ausgewogenheit, pfeifen auf den guten Geschmack. Sie fragen nicht nach Gut oder Böse, sondern lösen die Kategorien auf. Sie machen keinen Unterschied zwischen großer Kunst und deftiger Überzeichnung, sondern verbinden Sensibles mit Sensationellem, Dramatisches mit Drastischem, Schlaues mit Schlüpfrigem. Das macht ihn schwer greifbar als Regisseur – und leicht angreifbar. Verhoeven ist alles zugleich: auteur und Handwerker, Europäer und Amerikaner, Pulp-Fan und Intellektueller, unerbittlicher Realist und boshafter Satiriker, junger Wilder und Dirty Old Man.

Selbstverständlich wäre er gern unsterblich wie RoboCop, hat er einmal gesagt, aber dem stehe leider die Wirklichkeit im Wege. Seine Filme drehe er aus dieser Dialektik heraus: »Sie mögen wie reine Provokation wirken, sind aber tatsächlich Ausdruck der Wut über die Nichtigkeit unserer Lebenspläne.«

Lockerer Entwurf, physischer Stil

Verhoeven wird 1938 als Sohn einer Amsterdamer Akademikerfamilie geboren. Der Zweite Weltkrieg prägt ihn nachhaltig; er wird ihn später immer wieder filmisch aufarbeiten. Mitte der Fünfziger besucht er eine Kunstschule in Paris und liebäugelt mit einem Filmstudium, lässt sich aber von seinem Vater dazu bewegen, »etwas Richtiges« zu studieren: Mathematik und Physik. Nebenbei sieht er im Leidener Filmclub Werke von Bergman, Wilder, Welles, Kurosawa, Lean und Hitchcock und dreht eine Reihe von Kurzfilmen. Er promoviert über Einsteins Relativitätstheorie, wird 1964 zum Militär eingezogen und lässt sich zum Filmdienst der Marineinfanterie versetzen. Mit vergleichsweise großem Aufwand inszeniert er eine Dokumentation zum 300-jährigen Bestehen des niederländischen Marineinfanteriekorps und peilt danach eine Regiekarriere an.

Gleich seine erste TV-Dokumentation, ein Porträt des Anführers der niederländischen NS-Bewegung, sorgt für politische Kontroversen und wird mit zweijähriger Verspätung ausgestrahlt. Auf weniger Widerstand treffen die zwölf Episoden der Jugendserie »Floris, der Mann mit dem Schwert« (1969), die er mit dem jungen Rutger Hauer in der Titelrolle dreht. Die beiden verbindet fortan, in Verhoevens Worten, eine »nicht-sexuelle Liebesaffäre«. Hauer ist in fast allen Verhoeven-Filmen bis einschließlich »Flesh + Blood« mit von der Partie und wird zu einer ebenso festen Konstante wie der Produzent Rob Houwer, der Drehbuchautor Gerard Soeteman und die Kameraleute Jan de Bont und Jost Vacano.

Verhoevens niederländisches Œuvre zeichnet sich durch eine beachtliche Genrevielfalt aus; die Unberechenbarkeit wird zum Markenzeichen des jungen Filmemachers. Gemein ist diesen Filmen der lockere Entwurf: Sie setzen weniger auf straffe Plots als auf episodische Vignetten, wirken leicht und verspielt. Von Anfang an setzt Verhoeven auf einen dynamischen, ungemein physischen Stil, den er »hyperrealistisch« nennt und der vor allem de Bont und Vacano viel verdankt; beide werden später auch in den USA erfolgreich sein. Die Kamera ist bei Verhoeven immer in Bewegung und vollführt – gemessen an den Budgets – atemberaubende Operationen. Im Grunde träumt sie schon von Hollywood.

Eine erste Fingerübung ist Verhoevens Kinodebüt »Was ich sehe«: eine Farce über das Amsterdamer Rotlichtmilieu, die haarscharf am Softporno vorbeischlittert. Mit sichtlichem Vergnügen reiht Verhoeven bizarre erotische Spielchen aneinander und demonstriert jenen Sinn fürs Frivole, der sich durch sein ganzes Werk ziehen wird. Nicht minder explizit ist »Türkische Früchte« mit Rutger Hauer und Monique van de Ven, 1973 ein nationales Phänomen in Holland, für den Oscar nominiert und der eigentliche Startschuss für Verhoevens Karriere. Im Stil der Nouvelle Vague, mit Handkamera, Improvisation und großer Authentizität, erzählt er darin eine tragische Liebesgeschichte, die wie eine Kreuzung aus »Love Story« und »Der letzte Tango in Paris« daherkommt.

Danach hat Verhoeven freie Bahn. Ab sofort ist fast jeder seiner Filme die jeweils teuerste holländische Produktion aller Zeiten. Er dreht die Biografie »Das Mädchen Keetje Tippel« (1975) und den Kriegsfilm »Der Soldat von Oranien« (1977), beides historische Stoffe, die ihn als beinah klassischen Erzähler zeigen und große Erfolge werden (»Der Soldat von Oranien« erhält eine Nominierung für den Golden Globe). Trotzdem fällt es Verhoeven wegen der zahlreichen expliziten Sex- und Gewaltszenen in seinen Filmen immer schwerer, Subventionen zu bekommen. Als die holländische Filmförderung sich am Drehbuch zu »Spetters« stößt, in dem unter anderem eine Vergewaltigung durch eine Gruppe Homosexueller vorkommt, reicht Verhoeven ein gekürztes Skript ein, verfilmt aber trotzdem seine ursprüngliche Fassung. Spätestens jetzt wird er zum Enfant terrible des niederländischen Kinos.

Der Film löst 1980 einen Sturm der Entrüstung aus. Die Kritiker werfen ihm eine zu negative Haltung vor, eine »Anti-Spetters-Initiative« demonstriert vor den Kinos und bezeichnet das Werk auf Flugblättern als frauen-, schwulen- und behindertenfeindlich. Es sind dieselben Reflexe wie später bei »Basic Instinct« und »Showgirls«, und sie sind hier umso unverständlicher, als Verhoevens Drama über drei junge Motocrossfahrer einen durchaus liebevollen Blick auf den niederländischen Alltag wirft. Es entwickelt ein Gesellschafts­panorama, in dem Freundschaft, Solidarität und Zuneigung neben Habgier, Betrug und Gewalt existieren – und zwar quer durch alle Reihen. Verhoevens Credo dabei: Das Leben ist weder fair noch gerecht, aber trotzdem, oder gerade deshalb, spannend und aufregend. Und: Zum Leben gehören all jene Dinge, die das Kino für gewöhnlich unterschlägt, zwingend dazu, die Nacktheit, die Sexualität, die Geschlechtsteile. »Ich wollte über das Gewöhnliche hinausgehen«, sagt Verhoeven. »Ich wollte Dinge zeigen, die wahrhaftig und lebensecht sind, aber normalerweise ausgespart werden. Wenn es wahr ist, dann drehe ich es, und ich nehme es so auf, wie es ist.«

Einen weiteren Film kann Verhoeven noch in Holland realisieren: den extrem stilisierten Thriller »Der vierte Mann« (1983) mit Jeroen Krabbé und Renée Soutendijk, beide Teil seiner ständigen Entourage. Danach beginnt Verhoevens internationale Karriere mit einem »Scharnierfilm«: »Flesh + Blood« (1985) entsteht zum größten Teil mit amerikanischem Geld, wird aber mit einem bunt zusammengewürfelten Cast in Spanien auf Englisch gedreht. Der im frühen 16. Jahrhundert angesiedelte Ritterfilm ist ein ähnliches Monstrum wie später Showgirls: ambitioniert, aber komplett overdone. Verhoeven lässt sich von seiner Produzentenriege ins Drehbuch reinreden, bekommt den chaotischen Set nicht in den Griff und überwirft sich am Ende wegen unterschiedlicher Auffassungen mit Rutger Hauer. Es ist das traurige Ende einer großen Zusammenarbeit, die an Gespanne wie De Niro/Scorsese, Mastroianni/Fellini, von Sydow/Bergman denken lässt. Die beiden haben nie wieder zusammen gedreht.

All About Evil

In den Filmen, die er zwischen 1987 und 2000 in den USA macht, begegnet uns ein anderer Verhoeven als in »Flesh + Blood«: konzentrierter, kontrollierter, grandioser. Wie nach ihm Roland Emmerich und Wolfgang Petersen ist der Niederländer wie geschaffen für Hollywood, er kennt keine Berührungsängste mit aufwendiger Produktionsweise und grellem Comicbook-Entertainment. »RoboCop« (1987), »Total Recall« (1990) und »Starship Troopers« (1997) gehören zum Besten, was das Science-Fiction-Kino jener Phase hervorgebracht hat. Es sind einerseits wahr gewordene Fanboy-Träume mit großartigen Spezialeffekten, innovativen Storys und fulminant inszenierter Action, andererseits finstere Zukunftsvisionen, die mit kaum verhohlenem Sarkasmus die Gnadenlosigkeit kapitalistischer Prinzipien anprangern und, in schöner Chronologie, eine gesellschaftliche Entwicklung skizzieren, an deren Ende der Verlust der Demokratie steht. Kaum zu glauben, dass »Starship Troopers« mit seiner Kritik an Propaganda und Totalitarismus seinerzeit vor allem von den US-Rezensenten missverstanden wurde. Sie ließen sich – im Grunde wie die jungen Soldaten, die mit großem Hurra dem eigenen Untergang entgegenstürmen – von den Schauwerten des Riefenstahl-Looks in die Falle locken.

In allen drei Filmen verwendet Verhoeven ein stilistisches Element, das er bereits am Anfang von »Der Soldat von Oranien« etablierte: den Einsatz von Nachrichtensplittern und Werbespots, die das Geschehen einerseits über ihren Informationsgehalt vorantreiben, andererseits ironisch kommentieren. Besonders in diesen Schnipseln berichten die Filme vom Zustand der Gesellschaft (eine Familie spielt »Nuke 'Em« statt »Schiffeversenken«, Soldaten lassen Kleinkinder mit ihren Waffen spielen, Hinrichtungen werden live im Fernsehen übertragen). Es ist eine sehr effektive Methode, die später von Filmen wie »District 9«, der ohne Verhoeven ohnehin kaum denkbar wäre, aufgegriffen wird.

»Basic Instinct« (1992) liefert dann all jenen Nahrung, die Verhoeven immer schon als Misanthropen betrachtet hatten. Niemand in diesem sardonischen Ränkespiel mit dem berühmtesten Beinüberschlag der Filmgeschichte ist ohne Schuld und Berechnung, weder Sharon Stone in der Rolle ihres Lebens noch der wie eine Motte ums Licht kreisende Michael Douglas, und auch nicht all die anderen, samt und sonders weiblichen Tatverdächtigen. Man kann den Film als vulgär abtun, aber dafür ist er eigentlich zu elegant und vielschichtig – und funktioniert nebenbei als wunderbare Hitchcock-Hommage. Sie entwickelt einen Sog wie der ebenfalls in San Francisco spielende »Vertigo«, verbreitet ein Paranoiagefühl wie »Der unsichtbare Dritte« und spult einen süffisanten Geschlechterkampf ab wie »Über den Dächern von Nizza«.

Zusammen mit »Der vierte Mann« (1983) – auch eine Verneigung vor Hitchcock – und »Total Recall« bildet» Basic Instinct« im Verhoeven-Œuvre ein Trio des unzuverlässigen Erzählens. In »Total Recall« bleibt es bis zum Schluss offen, ob Arnold Schwarzeneggers Bauarbeiter sein Marsabenteuer tatsächlich erlebt oder nur implantiert bekommen hat. Die eisigen Blondinen aus »Der vierte Mann« und »Basic Instinct« sind höchstwahrscheinlich die Mörderinnen, möglicherweise sind sie aber bloß Opfer männlicher Projektion (immerhin ringen Krabbé wie Douglas um ihre mentale Stabilität). Das Faszinierende ist, dass man alle drei Filme buchstäblich so und so sehen kann: Sie funktionieren mit der einen Lesart genauso gut wie mit der anderen. Besonders irritierend ist der Einsatz einer Schwarzblende in »Basic Instinct«: Sie zerteilt die Schlussszene so, dass tatsächlich beide Auflösungen direkt nebeneinanderstehen. Sie war's nicht, oder sie war's doch – suchen Sie es sich aus.

Ist »Showgirls« (1995) reif für eine Revision? Kritiker wie Adam Nayman, der sich in seinem Buch »It Doesn't Suck« redlich müht, glauben das und verweisen auf die rigorose Kritik an den US-amerikanischen Verhältnissen, die zwischen Neon und blanken Busen bitterböse durchschimmert. Doch anders als am Boxoffice, an dem sich der spektakuläre Misserfolg im Lauf der Zeit dank DVD- und TV-Lizenzen zu einem veritablen Geschäft entwickelt hat, ist Verhoevens dunkles Las-Vegas-Märchen mit den Jahren nicht zu einem besseren Film gereift. Trotz schillernder Ästhetik, spürbarer Ambition und cleverer Symmetrien bleibt die All-About-Eve-Variation eine überzogene Groteske mit hemmungsloser Zuspitzung, hemmungsloser Nacktheit, hemmungslosem Overacting. Zugleich ist Showgirls eine Lektion in Sachen Hollywoodmaschinerie: Verhoeven und Autor Joe Eszterhas, der mit »Basic Instinct« einmal mehr sein Dauerthema vom schuldig Verfolgten vergoldet hatte, waren vor Showgirls auf dem Zenit ihrer Karriere und konnten buchstäblich machen, was sie wollten. Leider entschieden sie sich für einen ungeheuerlichen Exzess. Und mussten, wie so viele vor und nach ihnen, erfahren, dass ein Flop genügen kann, um alles zu ruinieren.

Eszterhas hat sich von diesem Schlag nie wieder erholt, Verhoeven durfte noch zwei große Studiofilme inszenieren; wenigstens im Sci-Fi-Genre traute man ihm weiterhin Großes zu. »Starship Troopers« und »Hollow Man« (2000) konnten die kommerziellen Erwartungen dann aber nicht erfüllen. »Hollow Man« leidet vor allem an einem Drehbuchproblem: Der Film kann sich für keine klare Perspektive entscheiden und hat, wie so oft bei Verhoeven, keine echte Identifikationsfigur. In tricktechnischer Hinsicht ist er dagegen ein wahres Wunderwerk. Wenn der von Kevin Bacon gespielte Mad Scientist unsichtbar gemacht wird, wird der Körper in Einzelschritten von der Kamera quasi seziert, Adern und pumpende Organe kommen zum Vorschein, bis nur noch das Skelett übrig bleibt und schließlich verschwindet.

Zweifelsohne hat der physische Aspekt Verhoeven besonders gereizt an Hollow Man. Die meisten seiner Filme handeln auch vom menschlichen Körper, seiner Verletzlichkeit und seinen Deformationen. Das beginnt bei Nacktheit und Sexualität und endet bei handfesten Splatterszenen wie in »Flesh + Blood« und »Total Recall« und in den Kriegsfilmen. In seiner Neugier auf das Physische ist Verhoevens Kino dem von David Cronenberg verwandt. Dessen Die Fliege erzählt ebenfalls von einem Wissenschaftler, der nach einem Selbstversuch den Verstand (und den Körper) verliert. Auch bei »Total Recall« gibt es einen Berührungspunkt: Cronenberg gehört zur Phalanx von Regisseuren, die sich an dem Projekt die Zähne ausbissen, bevor Verhoeven es schließlich realisierte.

Jesus is coming soon

»Durch Maria zu Jesus«, schreit Jeroen Krabbés Schriftsteller beim Sex mit Renée Soutendijk in »Der vierte Mann«. Er meint das ziemlich wörtlich: Später hat er eine Vision von einem Jüngling am Kreuz, dem er die Hose auszieht. »Der vierte Mann« steckt voller religiöser Anspielungen und Symbole und demonstriert sehr augenscheinlich Verhoevens »schizophrene Beziehung zum Christentum«. Der erklärte Atheist bleibt zeit seines Lebens fasziniert vom Mythos Jesus Christus. Als er Mitte der achtziger Jahre in die USA geht, schließt er sich zu Recherchezwecken dem sogenannten Jesus-Seminar an, einer Gruppe progressiver Theologen, die sich regelmäßig trifft, um über geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse zu sprechen. »Sowohl des Lateinischen als auch des Griechischen mächtig«, schreiben Keesey/Duncan in ihrer Verhoeven-Monografie, »war Verhoeven das einzige Laienmitglied des Jesus-Seminars, dem man ausreichende theologische Kenntnisse attestierte, um mit dem Vorstand abstimmen zu dürfen.«

Verhoeven studiert mehr als 1 000 Bücher zum Thema und versucht, einen Jesus-Film finanziert zu bekommen. Irgendwann glaubt er selbst nicht mehr an den Sinn des Unternehmens und veröffentlicht stattdessen 2008 ein Sachbuch: »Jesus – Die Geschichte eines Menschen«, in dem er die Evangelien von jeglichem »Spin« befreit und Jesus als charismatischen Rebellen und ganz gewöhnlichen Erdenbürger beschreibt.

In Verhoevens Kino hinterlässt diese Obsession deutliche Spuren. In jedem seiner Filme gibt es Hinweise auf Jesus und das Christentum, vom falschen Erweckungsprediger in »Spetters« über eine manipulierte Heiligenstatue in »Flesh + Blood« bis zum blinkenden Neonschild mit der Aufschrift »Jesus Is Coming Soon« in Showgirls. Zumeist haben diese Anspielungen keine besondere Bedeutung für die Geschichten, sie funktionieren eher als charakteristische Insider-Jokes, ähnlich Hitchcocks Kurzauftritten. Mit »RoboCop« allerdings ist Verhoeven sehr nah an seinen Jesus-Film herangekommen. Peter Wellers Polizist wird darin symbolisch gekreuzigt, erlebt eine Auferstehung und geht am Ende sogar übers Wasser. Er ist jedoch ein sehr amerikanischer Jesus: Er lehrt weder Frieden noch Nächstenliebe, sondern greift zur Waffe und knallt die Gesetzesbrecher ohne großes Federlesen ab.

Auch in »Elle« gibt es zahllose Jesus-Reminiszenzen. Isabelle Hupperts Nachbar installiert in seinem Garten eine lebensgroße Krippe (der Film spielt an Weihnachten); im Fernsehen laufen ein Gottesdienst und eine Reportage über den Papst; und Hupperts Sohn nimmt einmal ganz beiläufig die Kreuzigungspose ein. Natürlich ist es kein Zufall, dass Huppert im Kampf mit dem Vergewaltiger dessen Hand mit einer Schere durchbohrt – so wie in »Starship Troopers« ein Messer die Hand von Casper van Dien.

Spätes Comeback

Zweieinhalb Filme in sechzehn Jahren: Es ist ein schmales Spätwerk, das Verhoeven bislang hinterlassen hat. Als sein Interesse an der Science Fiction abgekühlt war, gab es in Hollywood für ihn kaum noch Optionen. So kehrte er in seine Heimat zurück und drehte 2006 das angenehm differenzierte Widerstandsdrama »Black Book« und unternahm sechs Jahre später mit der Crowdfunding-Komödie »Tricked« ein geglücktes, wenn auch kaum wegweisendes Experiment. »Elle« nun ist eine triumphale return to form, die auf weitere Verhoeven-Filme hoffen lässt. Ein Projekt über die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg ist bereits angekündigt.

Obwohl sich »Elle« in vielerlei Hinsicht anders anfühlt – es ist ein sehr französischer Film geworden, mit Anklängen an Renoir und Chabrol –, führt doch eine Reihe von Linien in Verhoevens frühere Filme. Wie die Heldinnen aus »Keetje Kippel«, »Basic Instinct«, »Showgirls« und »Black Book« ist Hupperts Figur eine Selfmade-Frau, die sich in einer von Männern dominierten Welt einerseits durchzusetzen gelernt hat, andererseits immer wieder zum Opfer wird. Wie Rutger Hauer in »Türkische Früchte« und Jeroen Krabbé in »Der vierte Mann« entwickelt sie Rachephantasien, die Verhoeven als drastischen Gewaltexzess inszeniert. Und bei einer Party tanzt sie wie die jungen Kerle aus »Spetters« zu einem Song, der wie die Hymne für Verhoevens ganzes Kino klingt: Iggy Pops »Lust for Life«.

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