Nahaufnahme von Sandra Hüller

Verstörung und Ironie
Sandra Hüller in »Toni Erdmann« (2016)

Sandra Hüller in »Toni Erdmann« (2016)

Ihre große Liebe sei das Theater, die Arbeit vor der Kamera ein Flirt, sagte Sandra Hüller einmal. Dieser Flirt hat in den vergangenen zehn Jahren einige der faszinierendsten deutschenFilmcharaktere hervorgebracht. Wie man auch in »Toni Erdmann« sieht

Was machst du denn für Sachen, stammelt sie in »Über uns das All« voller Verzweiflung auf die Mailbox ihres Mannes. Seit einer Minute hat sie da Gewissheit, dass er Suizid begangen hat. Als der Polizeibeamte hinzukommt und ihr sein Beileid ausspricht, sagt sie hastig: »Ach, da können Sie doch nichts für«, mit einem Lächeln, als sei sie aus der Unfassbarkeit des Verlusts plötzlich wieder in einen Alltag zurückgefallen, in dem die Kata­strophe nicht geschehen ist.

»Über uns das All« (2011). © Real Fiction

Solcherlei Irritationen zwischen tiefsten emotionalen Abgründen und beiläufiger Natürlichkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die Rollen Sandra Hüllers, die von »Spiegel«-Autor Wolfgang Höbel einmal als »kolossal seltsame Schauspielerin« bezeichnet worden ist. Ein Kompliment, denn »normale« Frauenfiguren interessieren Hüller laut eigener Aussage kaum. Dabei strahlt sie außerhalb ihrer Rollen vor allem eine charmante Bodenständigkeit aus, die von ihrer ganz unglamourösen, eher burschikos wirkenden Erscheinung und dem blassem Teint unterstrichen wird. In ihrer Arbeit hat sie jedoch immer wieder die Extreme gesucht, spielte am Theater tragische und zerrissene Figuren wie Julia, Medea oder auch Courtney Love. Ebenso im Kino: viele Verstörte und Verstörende. Hüller liefert sich allen diesen Rollen seelisch wie körperlich rückhaltlos aus.

Schon ihr erster Spielfilm bescherte ihr die höchsten Auszeichnungen der Branche: In Hans-Christian Schmids »Requiem« von 2006 verkörperte sie die in einem dörflichen, streng katholischen Elternhaus aufgewachsene, an Epilepsie leidende Studentin Michaela Klingler, die in den 1970er Jahren an einem Exorzismus zugrunde geht. Es war die erschütternde Darstellung einer scheiternden Emanzipation. Unvergesslich etwa jene Szene, in der Michaela bei einer Studentenparty zu Deep Purples »Anthem« tanzt, so gelöst und strahlend, so trunken von Freiheit oder zumindest der Ahnung davon, dass ihr folgender Absturz in die »Besessenheit« umso mehr entsetzt.

»Brownian Movement« (2010). © Filmlichter

Bereits vor diesem Film war Sandra Hüllers Karriere steil bergauf gegangen. 1978 im thüringischen Suhl geboren, wuchs sie die ersten Jahre in dieser dörflich geprägten Region der DDR mit ihrem sehr speziellen Provinzklima auf. Den Mauerfall erlebte sie als »Riesenschock«, doch vielleicht darf man spekulieren, dass diese Erfahrung tiefer Verunsicherung ihrer Kreativität zugutekam. Noch vor dem Abitur bewarb sich Hüller an der renommierten Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, es folgten Bühnenengagements unter anderem in Jena, Leipzig, Berlin und München, 2003 wurde sie von »Theater heute« als Nachwuchsschauspielerin des Jahres ausgezeichnet. Auch nach dem Triumph von »Requiem« blieb sie der Bühne treu, tauchte nun aber immer wieder in ungewöhnlichen, oft rätselhaften Filmrollen auf. Was die Stoffe angeht, war und ist sie wählerisch, das heißt aber nicht, dass sie nur auf die anspruchsvollen Rollen zielt. Auch für »Fack Ju Göhte« sprach sie vor.

Ausrufezeichen setzte sie mit Werken wie »Madonnen« als kriminelle alleinerziehende Mutter oder »Brownian Movement«, in dem sie als enigmatische Ärztin faszinierte, die wohlorganisiert mit Patienten ihren Mann hintergeht. Eine Gratwanderung zwischen emotionaler Wucht und Zartheit, bis heute vielleicht ihre schillerndste Rolle, folgte im eingangs zitierten Film »Über uns das All« von Jan Schomburg: Direkt nach dem Verlust ihres Mannes und dem weiteren Schock ob dessen Doppellebens lässt sie sich da in eine neue Liebe fallen, Hals über Kopf, leidenschaftlich – und mit einer Leichtigkeit, die wohl nur Sandra Hüller so außerhalb aller psychopathologischen Schubladen darstellen konnte.

Dass Sandra Hüller auch komödiantisches Talent besitzt, war immer wieder zu ahnen, in »Finsterworld« – als Dokumentarfilmregisseurin auf der verkrampften Suche nach dem »Authentischen« – entfaltete sie jene liebevolle Ironie, die jetzt in Maren Ades »Toni Erdmann« fantastische Blüten treibt. Eine Virtuosin der Genervtheit und des peinlichen Berührtseins ist Hüller hier als stets um Kontrolle bemühte karrieristische Unternehmensberaterin, die von ihrem Vater gegen ihren Willen einer Art Irritationstherapie unterzogen wird. Auch wenn hier die Prämisse eine andere als in früheren Arbeiten ist, zeigt sich doch die ganze Bandbreite von Hüllers Kunst in den irritierenden Gegensätzen und Übergängen von Verhuschtheit und Souveränität, Verhärtung und Zärtlichkeit, Ratlosigkeit und eiserner Entschlossenheit. Und wieder ist da (mindestens) eine unvergessliche Szene, die sogar das abgebrühte Publikum in Cannes zu Szenenapplaus animierte: ihre hinreißende Darbietung von »Greatest Love of All«, interpretiert unter dem fast ebenso hinreißenden sprechenden »Künstlernamen« Whitney Schnuck.

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