Nahaufnahme von Alba Rohrwacher

Radikal aufrichtig
»Meine Tochter – Figlia Mia (2018). © Real Fiction Filmverleih

»Meine Tochter – Figlia Mia (2018). © Real Fiction Filmverleih

Manchmal wirkt sie fast körperlos – zart und zerbrechlich. Aber gerade mit ihrer Physis erzielt Alba Rohrwacher auf der Leinwand nachhaltige Wirkung.
Die italienische Schauspielerin arbeitet vor allem mit Autorenfilmern zusammen. Wie jetzt in »Meine Tochter« zum zweiten Mal mit Laura Bispuri

Alice ist einfach zu jung. Das kleine Mädchen kann sich dem Druck ihres von Ehrgeiz und Geltungsdrang fast zerfressenen Vaters nicht entziehen. Obwohl sie nicht will, nimmt sie an einem nebligen Tag in den Bergen an einer Skiabfahrt teil und verunglückt. Seither ist ihr linkes Bein steif. Aber das ist nicht die einzige Verletzung, die sie sich an diesem verhängnisvollen Nachmittag zugezogen hat. Auch in ihrem Innern ist etwas zerbrochen und nie wieder verheilt. Knapp 20 Jahre später ist Alice eine anerkannte Fotografin. Doch ihr Trauma hat sie nicht verwunden. Es frisst die magersüchtige junge Frau buchstäblich auf.

In Saverio Costanzos eigenwilliger Verfilmung von Paolo Giodarnos Roman »Die Einsamkeit der Primzahlen«, die unsere alltägliche Welt als horriblen, die Menschen zerstörenden Ort zeichnet, zeichnet sich jeder einzelne Wirbel auf Alices Rücken ab. So versetzt einem jeder Blick auf ihren abgemagerten Körper einen tiefen Stich. Es schmerzt, die langsame und dabei so erschreckend konsequente Selbstauslöschung dieser über alle Maßen verletzten, sich fortwährend selbst bestrafenden Künstlerin zu beobachten. Nichts wird sie retten können, nicht einmal die überraschend hoffnungsvolle Geste, mit der Costanzos Film endet. Es war immer schon zu spät für Alice. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation hat sich regelrecht in Alba Rohrwachers Körper eingeschrieben.

»Die Einsamkeit der Primzahlen« (2010). © NFP

Die 1979 in Florenz geborene Tochter eines deutschen Bienenzüchters und einer italienischen Grundschullehrerin spielt die sich aufzehrende Fotografin nicht nur. Sie gibt Alices Schmerz einen Körper und damit eine niederschmetternde Wirkung. Zehn Kilo hat die ohnehin eher zarte Schauspielerin für diese Rolle abgenommen und ist damit an ihre eigenen Grenzen gegangen. Das erinnert an die Exzesse einiger berühmter method actors. Und wie einst Robert De Niro und später Christian Bale sucht auch Alba Rohrwacher nach dem Wahrhaftigen. In einem Interview hat sie einmal bekannt: »Klarheit, Wahrheit, sowohl bei der Arbeit als auch im Umgang mit Menschen: Das ist für mich die Grundlage.« Das ist es aber auch, was sie von den begnadeten Selbstdarstellern Hollywoods, die sich radikal verwandeln und sich gerade dadurch treu bleiben, trennt. Klarheit bedeutet eben auch den Verzicht auf jegliche Form von Eitelkeit. Alices Schmerz, ihre Verzweiflung und ihre Fremdheit in der Welt, ist alles, was auf der Leinwand zu sehen ist.

2014, vier Jahre nach »Die Einsamkeit der Primzahlen«, haben Alba Rohrwacher und Saverio Costanzo erneut zusammengearbeitet. In »Hungry Hearts« spielt Rohrwacher eine Italienerin in New York, die sich haltlos in einen von Adam Driver verkörperten Ingenieur verliebt. Als Mina schwanger wird, entwickelt sie einen Reinheitswahn, der schließlich auch ihr Baby gefährden wird. Wie Alice magert Mina mehr und mehr ab. Aber anders als die Fotografin ist sie keine zerbrochene Figur. Sie kennt nur keine Grenzen. Ihre Sehnsucht nach dem Absoluten zerstört Mina zwar Schritt für Schritt. Aber sie ist auch eine grandiose Metapher für Alba Rohrwachers Schauspielkunst. Insofern überrascht es nicht, dass sie für diese Rolle 2014 bei den Filmfestspielen von Venedig den Coppa Volpi als beste Schauspielerin erhalten hat. Wie schon in Costanzos Bestselleradaption kehrt Alba Rohrwacher das Innere ihrer Figur nach außen. Wieder geht sie an körperliche Grenzen und lotet so Abgründe der menschlichen Natur aus.

Alice und Mina gehören zweifellos zu den radikalsten Figuren, die Alba Rohrwacher bisher porträtiert hat. Aber auch all ihre anderen Arbeiten zeugen von ihrer Sehnsucht, im Spiel zu einer tiefen Wahrheit zu finden. Und diese Wahrheit offenbart sich zuerst im Körperlichen, im Rhythmus von Bewegungen. In »Mein Bruder ist ein Einzelkind«, Daniele Luchettis Porträt zweier ungleicher Brüder, das zugleich auch ein Panorama der politischen Umbrüche im Italien der späten 60er und frühen 70er Jahre entwirft, tritt sie nur in wenigen Szenen auf. Sie spielt die deutlich bodenständigere Schwester der beiden sich zunehmend radikalisierenden Brüder, und es ist ihr Pragmatismus, der dem Zuschauer letztlich in Erinnerung bleibt. Als ihr Bruder Accio tiefer und tiefer in die neofaschistische Szene jener Zeit abrutscht, versucht sie, ihn durch Schläge zur Vernunft zu bringen. Das ist natürlich absurd; dennoch manifestieren sich in diesem liebevoll gemeinten Ausbruch der Gewalt die Widersprüche jener Ära.

Etwas verbindet einen Großteil der Rollen, die Alba Rohrwacher seit ihren ersten Film- und Fernsehengagements im Jahr 2004 spielt. Ihre Figuren sind meist Menschen, die sich fremd fühlen, entweder in der Gesellschaft oder wie Alice in ihrem eigenen Körper. Dieses Gefühl des Nichtdazugehörens verbindet Elisabetta, die lesbische Künstlerin aus »Ich bin die Liebe«, Luca ­Guadagninos überwältigendem Porträt einer Mailänder Industriellenfamilie, mit der aus einem Kriegsgebiet nach Berlin geflüchteten Irina in Doris Dörries Melodrama »Glück« ebenso wie mit der im Religiösen nach Halt suchenden Politikertochter Maria in Marco Bellocchios puzzleartigem Ensemblefilm »Bella addormentata«. Wie sich die seit dem Tod ihrer Mutter verstörte junge Frau jeder Berührung ihres Vaters entzieht, erzählt ungeheuer viel über sie. Zweifel und falsche Schlüsse haben sie entwurzelt. Aber die Fremdheit, die Alba Rohrwacher so eindringlich verkörpert, eröffnet Elisabetta, Irina und Maria auch Freiheiten. Jede von ihnen verliert sich in einer bedingungslosen Liebe und findet darin ein Glück, wie es nur Außenseiter verspüren.

»Sworn Virgin« (2015). © drei-freunde Filmverleih

Wie eine restriktive, rein von Männern geprägte Gesellschaft eine Frau von ihrem Körper entfremdet, erzählt Laura Bispuri in ihrem Debüt »Sworn Virgin«. Um ihrem Schicksal als unterdrückte Frau zu ent­gehen, entscheidet sich die von Alba Rohrwacher gespielte Hana, zu einem Mann namens Mark zu werden. Doch dafür muss sie schwören, auf ewig Jungfrau zu bleiben. Aber auch so gibt es für sie in dem albanischen Bergdorf, in dem sie lebt, keine Zukunft. Also verlässt sie ihre Heimat und geht nach Italien, wo sie schließlich mit ihrem weiblichen Begehren konfrontiert wird. Wie in den Filmen Saverio Costanzos nähert sich Alba Rohrwacher in »Sworn Virgin« ihrer Figur ganz über ihren Körper. Nur indem sie ihre Weiblichkeit verleugnet, findet sie schrittweise zu ihr. Gemeinsam unterlaufen Laura Bispuri und Alba Rohrwacher eine an sich tragische Situation. Dieser erstaunliche Optimismus erfüllt auch »Meine Tochter – Figlia mia«, Bispuris zweiten Film mit Rohrwacher in der Hauptrolle. Die wilde, sich in Sex und Alkohol verlierende Angelica ist auf den ersten Blick eine klassische Klischeefigur, eine haltlose Frau, die sich und alle anderen zerstört. Vor Jahren hat sie ihre neugeborene Tochter der kinderlosen Tina überlassen, doch nun sucht sie die Nähe zu Vittoria und beschwört damit fast eine Tragödie herauf. In ihrer Maßlosigkeit ist Angelica ein Gegenentwurf zu all den extrem kontrollierten Figuren, die Alba Rohrwacher bisher gespielt hat. Aber selbst im Exzess findet sie zu einer schlichten Klarheit und Wahrheit, die alles Klischeehafte transzendiert.

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