Kino: Das Ende einer Ära?

Kino: Das Ende einer Ära?

Noch nicht einmal 100 Millionen Menschen gingen im letzten Jahr ins Kino, ein historischer Tiefstwert. Hat das Kino keine Zukunft mehr? Zur Lage der Lichtspielhäuser in Deutschland

Jedes Jahr, in dem eine Fußball-Weltmeisterschaft ansteht oder in dem der Sommer schon im April beginnt, wird zu einem Schicksalsjahr für die rund 5000 Kinosäle in Deutschland, die sich auf rund 900 Orte verteilen. Das war nicht erst 2018 so. Aber: Viel ist diesem Jahr über die Zukunft des Kinos geredet worden, soviel wie selten zuvor. Schon vor der Berlinale im letzten Jahr trafen sich in der Akademie der Künste in Berlin Kinomacher mit Verbandsvertretern zum Gedankenaustausch über »die Lust am Kino und die Angst vor seinem Verschwinden«, wie es im Einladungstext hieß, zur Veranstaltung »Es lebe das Kino! Zur Situation des Kinos in Deutschland«. Und im September, da war das Kind zahlenmäßig aber schon in den Brunnen gefallen, lud die Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft (SPIO) eine ähnliche Klientel in den frisch renovierten Zoo-Palast ein, zur Tagung »Kino schafft Zukunft. Kino hat Zukunft«.

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Angst vor dem Kinosterben. Für Lars Henrik Gass, den Direktor der Oberhausener Kurzfilmtage, sind wir ohnehin längst in der Zeit danach: »Film und Kunst nach dem Kino«, hat er sein schon 2012 erschienenes Büchlein genannt. Zum Glück gibt es das Kino immer noch. Und es ist Kultur und Kommerz gleichzeitig. Es ist sinnvoll, sich einmal das Geschäft, die Ware, anzuschauen, die in den großen Kinos läuft. Unter den Filmen in den deutschen Top Ten finden sich acht Fortsetzungen. Nur der Überraschungserfolg »Bohemian Rhapsody« (2,1 Millionen Besucher, Platz 8) und der deutsche Kinderfilm »Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer« (1,8 Millionen Besucher, Platz 10) bilden Ausnahmen. Auf Platz 1 steht »Avengers: Infinity War« mit 3,4 Millionen Besuchern. 3,4? »Der Schuh des Manitu« hatte einst über 11 Millionen. In den USA dagegen waren die beiden Marvel-Verfilmungen »Infinity War« und »Black Panther« mit je rund 700 Millionen Dollar Einspiel die Besucherkönige. Kein Wunder, dort wächst wahrscheinlich jedes Kind mit den Comics von Marvel und DC und ihren Figuren auf. Bei uns nicht. Ein Ersatz für die »Herr der Ringe«-Saga oder die »Harry Potter«-Filme jedenfalls scheint nicht gefunden.

Die deutschen Programmkinos hat die Sommerflaute nicht so heftig getroffen. Ihr Einbruch betrug acht Prozent. Der Vorsitzende ihres Verbandes, der AG Kino-Gilde, Christian Bräuer betonte: »Wir beobachten an einzelnen Standorten sogar Zuwächse.« Man könnte also auch ketzerisch, Sommer hin, WM her, die These in den Raum stellen: Das System der Franchises und Blockbuster ist in die Krise geraten. Mehr als die Kinos vielleicht? Das würde natürlich besonders die Multiplexe treffen, die damit ihr Geschäft machen. Nicht nur, aber zu einem großen Teil. Die Multiplexe, also Kinocenter mit mindestens acht Sälen, die meisten in den letzten 30 Jahren neu gebaut, sind die Big Player im deutschen Kinogeschäft. Mit 220 Kinos stellen die fünf größten Multiplexketten zwar nur etwa ein Siebtel aller 1630 Kinos in Deutschland, mit 338.300 Sitzplätzen teilen sie sich jedoch einen Marktanteil von mehr als 40 Prozent. Insgesamt gibt es rund 800.000 Sitzplätze in Deutschland. Bei den Multiplexen brach der Umsatz in diesem Sommer so dramatisch ein, dass manche Häuser Säle gar nicht mehr bespielt haben und die Zeit zur Renovierung nutzten. Als die Multiplexe zu Beginn der Neunzigerjahre ihren Siegeszug antraten, gab es an vielen Kinostandorten einen Verdrängungswettbewerb, der zur Schließung vieler alteingesessener Häuser führte.

Die Multiplexe sind vor dem Hintergrund einer eher mittelständischen Kinowirtschaft große Kapitalgesellschaften. Und entsprechenden Begehrlichkeiten ausgesetzt. Ende letzten Jahres wurde die »CineStar«-Kette verkauft. Zu ihr gehören 55 Kinocenter in Deutschland mit 445 Leinwänden. Erworben hat sie für 130 Millionen Euro und einer variablen Komponente die britische Firma Vue. Zu ihr gehört schon die »Cinemaxx«-Kinokette, 1998 gegründet von Hans-Joachim Flebbe, und 2012 von Vue erworben. »Cinemaxx« betreibt in Deutschland 29 Kinocenter. UCI, die in Deutschland 209 Leinwände an 24 Standorten disponiert, ist seit 2016 im Besitz der amerikanischen AMC, die wiederum eine Tochter des chinesischen Kinogiganten Wanda Group ist. Bei den Ketten wird die Disposition meist von der Zentrale erledigt, woher auch die Direktiven kommen; der Theaterleiter vor Ort hat da wenig Chancen, auf sein regionales Publikum einzugehen.

Der Kölner Cinedom, eines der ersten Multiplexe in Deutschland, hat eine Online-Umfrage gemacht: Die Kölner wollen mehr Komfort und weniger warten. Und zwei Drittel­ wünschen sich Aufenthaltsmöglichkeiten vor den Sälen. Eigentlich eine bittere Pille, für die ganze Multiplexbranche. Gemütlich sind sie nicht. Man hetzt eine Treppe oder gar eine Rolltreppe hoch, steht an der Kasse an, später beim Einlass und dann noch an den Theken, um seinen Halbliter-Becher Cola (kleinste Größe!) zu erstehen. Wenn man als Frau auf die Toilette muss, gibt es meist auch noch einen gewaltigen Rückstau, falls sich gerade ein großer Saal geleert hat. Und vielleicht ist Ihnen ja auch das ein oder andere Mal ein älteres Paar aufgefallen, das mit angstgeweiteten Augen den Anfang der Kassenschlange suchte. Für ältere Menschen sind Multiplexe nicht gebaut. Als sie aus dem Boden wuchsen, vor dreißig Jahren, waren die Hauptzielgruppe des Popcorn-Kinos Besucherinnen und Besucher zwischen 15 und 25. Inzwischen hat sich ein demografischer Wandel im Kino abgezeichnet. Kurz gesagt: Die Jungen gehen nicht mehr so oft ins Kino – die Alten aber dafür mehr (was leider nicht den Ausfall der Jungen ausgleicht). Sagen wir es einmal hart: Multiplexe sind keine Orte für ein nachhaltiges Kinovergnügen.

Für ein gediegenes, älteres Publikum baut Hans-Joachim Flebbe seine Premiumkinos der Marke »Astor Film Lounge«. Kinos mit großem Foyer, meist mit Garderobe, einem schönen großen Saal, in dem man sich bis zum Beginn des Hauptfilms geruchsneutrales Fingerfood servieren lassen kann, und Sitzen mit Bewegungsfreiheit und Abstand, oft auch höhenverstellbar. Allerdings hat das seinen Preis: Zwischen 12 und 15 Euro kostet ein Ticket, etwas mehr als die durchschnittlichen 8,60 Euro. 2008 hat Flebbe sein erstes »Astor« in Berlin eröffnet, durch den Umbau des »Film-Palasts« am Kurfürstendamm. Im Dezember eröffnete eine »Astor Film Lounge« in der Hamburger HafenCity. In München vergrößerte die Firma das Schwabinger »Arri« auf drei Säle; ­es gibt einen großen mit 335 Plätzen, das »Arri« mit 177 und den »Club« mit 72 Plätzen, liebevoll als (Film-)Bibliothek eingerichtet. Die bislang größte »Astor Film Lounge« soll im Sommer diesen Jahres auf dem Dach des Einkaufszentrums »MyZeil« in Frankfurt eröffnen. Auf den Flebbe-Zug werden auch andere aufspringen: Der Gigant UCI hat am Mercedes Platz in Berlin, in der Nähe der legendären East Side Gallery, im letzten Jahr das »UCI Luxe« eröffnet, das Flaggschiff der Kette, 1600 Plätze in 14 Kinos, das größte hat 368 Plätze. Die Sitze sind sogenannte Reclining Seats, die sich elektrisch verstellen lassen.

»Man muss«, sagte Hans-Joachim Flebbe dem Kinobranchenblatt »filmecho/filmwoche«, »so bald wie möglich die Attraktivität der Kinos als Premium-Erlebnisort für Film erhöhen. Wer nicht in seine Häuser investiert, wird es schwer haben, zu überleben.« Im Kino gibt es heutzutage einen ungleich schnelleren Kreislauf der Investitionen als früher. Wer zu Zelluloidzeiten in einem Kino gearbeitet hat, weiß, dass dort Filmprojektoren ihren Dienst getan haben, die vor Jahrzehnten eingebaut wurden. Das Schlimmste, das passieren konnte, war, dass die Lampe einmal ihren Geist aufgegeben hat. Heute muss die Kinotechnik etwa alle fünf Jahre auf den neuesten Stand gebracht werden, sowohl vom Bild als auch vom Ton her, wie Christian Bräuer von den Yorck-Kinos auf der »Es lebe das Kino«-Veranstaltung betonte. Und es kommen neue Anforderungen auf die Kinos zu, wie möglicherweise die LED-Leinwand – also der Wegfall der  traditionellen Kinoprojektion. Eine solche Cinema LED Screen mit dem Namen »Onyx« bietet der Elektronikriese Samsung an. Das erste Kino mit dieser Technik in Deutschland spielte im Esslinger »Traumpalast«. Die Millionen Leuchtdioden sollen für ein bis zu zehn Mal helleres und farbintensiveres Bild sorgen und vor allem störende Reflexionen, etwa durch Notausgangsschilder, komplett eliminieren. »True black«, wie Samsung verspricht.

Das Kino steht also vor einem massiven Investitionsschub, abgesehen von den hausgemachten Problemen der Filmwirtschaft wie der Filmflut (rund 600 Filme starteten im letzten Jahr) oder der zeitlichen Ballung potenzieller Blockbuster im Mainstream wie im Arthousebereich. Bislang stehen nur fünf Prozent der in Deutschland ausgegebenen Filmfördermittel für dezidierte Kinoförderung zur Verfügung, obwohl die Koalition die Sicherung der Zukunft des Kinos im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat. Die Konkurrenz durch die Streamingdienste erscheint da als zu vernachlässigendes Problem, vor allem, seit eine Studie herausgefunden hat, dass die Nutzer von Netflix und Co auch zu den »heavy usern« des Kinos gehören.

 

Dass es im Kino Veränderungen geben wird bis hin zu einer Reduktion der Sitzplatzkapazität, ist klar. Dass das Kino als Erlebnisort erhalten werden muss auch. Immer noch besteht das Gros der Kinos, rund ein Drittel, aus Lichtspieltheatern mit nur einem Saal. Es ist mitunter »in der Fläche« eines der wenigen kulturellen Angebote. Und es gibt immer noch die von Enthusiasten betriebenen Kinos, mit einem anspruchsvollen Programm, sagen wir mal das »Werkstattkino« in München, das »Wolf-Kino« in Berlin-Neukölln oder das »Mal Seh'n« in Frankfurt. Die spielen auch Filme, die Sie wahrscheinlich nie bei Netflix und Amazon zu sehen bekommen. Es sind Szenekinos. Das »Mal Seh'n« etwa liegt im Frankfurter Nordend, aus dem Viertel kommt auch traditionell das Publikum, es gibt ein Café, wo man sich vor und nach dem Film sehr gut aufhalten kann. Gunter Deller, einer der Betreiber des Kinos, sagt: »Kino heißt, gute Filme in Gemeinschaft zu sehen. Und in einer ansprechenden Umgebung. Dieses Bedürfnis wird es weiterhin geben, aber man muss darauf achten, dass man sich seine Besonderheit in Sachen Filmauswahl und Ambiente bewahrt.«

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