Frauenfilmbewegung: Wir haben keinen eigenen Planeten

»Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles« (1975)

»Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles« (1975)

Regisseurinnen der Siebziger bis Neunziger stehen im Fokus der Berlinale-Retro. Jutta Brückner, eine Protagonistin der deutschen Frauenfilmbewegung, über feministische Ästhetik und das Kino nach #metoo

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Das wissen alle, aber die Frauen wissen es besonders. Als die Geschichtswissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft entstand, gab es in ihr für Frauen keinen Platz, denn sie galten noch als geistig minderbemittelt. Männer waren Logos, Vernunft, geistiges Vermögen, Frauen Materie, ein Teil der Natur und deshalb geschichtslos. Weiblichkeit war alles, was der Mann nicht sein wollte, die Gesellschaft aber brauchte. Nur der Mann war Subjekt, nur er verfügte über Verstand, Kontrolle und Kreativität. Frauen waren Teil der Welt der Affekte, des Begehrens und der Lüste, der Schönheit, Anmut und Erotik, und was das alles war, wurde von Männern definiert. Die kulturelle Plastizität der weiblichen Rolle durch die Jahrhunderte wurde erst von der Frauenbewegung beschrieben und »Weiblichkeit als Maske« genannt. Aber schon 1956 hat Günther Anders in »Die Antiquiertheit des Menschen« geschrieben: »Hat nicht die Macht unserer Männerwelt, die in vielen Sprachen den ›Menschen‹ zur bloßen Variante des Worts ›Mann‹ gemacht hat, auch die Philosophie mitgeliefert? Sind nicht ›Ich‹ und ›Bewusstsein‹ Männer?« Das Unbehagen war da.

Auch die Filmgeschichte wird von Siegern geschrieben. Vor zwei Jahren sollte ein runder Tisch der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien klären, warum es 40 Jahre nach der Frauenbewegung noch immer ein großes Missverhältnis gibt zwischen der Zahl der Künstlerinnen und der Sichtbarkeit ihrer Werke in der Öffentlichkeit. Ich erinnerte daran, dass es in den 70er und 80er Jahren in Deutschland eine Generation von Filmemacherinnen gegeben hatte, deren Filme weltweit anerkannt waren. Erstaunt sagten viele der anwesenden Frauen: »Ja, wo sind die denn alle geblieben? Warum haben die keine Filme mehr gemacht?« Die Antwort ist einfach: Nach der Blütezeit dieser ersten Frauenfilmbewegung, die etwa 15 Jahren dauerte, bekamen die Filmemacherinnen keine Produktionsmittel mehr. Ihnen geschah das Gleiche wie ihren Vorgängerinnen in den Anfängen des Films. Auch deren Werke waren verschollen gewesen und wurden erst von der Frauenbewegung ausgegraben.

Als die erste Frauenfilmgeneration Ende der 1960er begann, entstand sie in enger Anlehnung an den politischen Impetus und die gesellschaftlichen Forderungen der zweiten Frauenbewegung. In Kurzfilmen, dokumentarischen Filmen und Videoarbeiten beschäftigten sich die Regisseurinnen und Autorinnen mit dem, was auch die Feministinen umtrieb: der geschlechtshierarchischen Verteilung der Haus-, Erwerbs- und Kinderarbeit und der Kontrolle des weiblichen Körpers. Es ging um den gesellschaftlichen und privaten Alltag und um andere, realistische Frauenbilder in den Medien. Aber von Beginn an war die Bewegung nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch. Ein Teil der Frauen forderte, dass Frauen die Möglichkeit hätten, jede Art von Film zu machen, die sie machen wollten, so wie die Männer.

In einer Übertragung des politischen Gerechtigkeitsfeminismus forderten sie das Recht auf Arbeit und schon damals eine Quote von 50 Prozent. Ein anderer Teil der Frauenfilmbewegung plädierte für den »feministischen Film«, der eine avantgardistische Ästhetik haben müsse. Diese Filme fanden ihren Platz nicht im Kino, sondern im white cube, in Museen und Galerien, denn die Bildende Kunst ist für eine reflektierte Suche nach neuen Formen von Körperdarstellung offener als das Kino mit seinem Drang zur Ikonisierung des weiblichen Körpers. Genau dies war das Problem für die Frauen, die feministische Spielfilme machten. In Narration, Dramaturgie und Inszenierung mussten sie Formen finden, eine solche Ikonisierung zu vermeiden und ihren Protagonistinnen Handlungsspielraum zu erobern, den im klassischen Kino nur der Mann hatte. Er war der Held, mal konservativ, mal kritisch, mal siegreich, mal im Scheitern schön, und qua Herkunft und Geschlecht berufen, alles einzurichten, was irgendwo irgendwie aus den Fugen geraten war, vom Liebesproblem bis zum historischen Verhängnis; die Frau war sein love interest. Heute, da es Frauen in ganz anderen Rollen im Film gibt, kann man sich die Herausforderung, vor der die Künstlerinnen der ersten Frauenfilmgeneration standen, kaum noch vorstellen.

Die Bewegung war vielfältig, es gab viele Feminismen, und ihre Energie verteilte sich auf alle Schattierungen von politischer und künstlerischer Praxis, ästhetischer Reflexion und gesellschaftlicher Theorie. Der gemeinsame Kern aber war das Bewusstsein, dass die Gesellschaft geändert werden musste in allen politischen und kulturellen Bereichen. Sehr wichtig war zudem, dass die Bewegung von Anfang an begleitet wurde von einer psychoanalytisch ­fundierten Filmtheorie, für die vor allem ein Name steht: Laura Mulvey. Ihr legendärer Text über »Visuelle Lust und narratives Kino« hat uns gezeigt, wie die reale Ausschließung der Frau von der Macht ihre Repräsentation im Bild bedingt. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich vom Inhalt des Films auf Blickstrategien des Kinos und Subjektpositionen der Betrachterinnen. Wie kann die Frau sich des Blicks bemächtigen, der in der bürgerlichen Kultur ein männliches Macht- und Unterwerfungsmittel von Welt und Frau ist? Mulveys kritische Auseinandersetzung mit der hegemonialen Bilderwelt Hollywoods war mit der Hoffnung verbunden, dass in der feministischen Filmarbeit ein »anderes« Kino jenseits patriarchaler Vorstellungsmuster entstünde, ein Gegenmodell, ein counter cinema, weil nur in Bildern, die an keine der üblichen filmischen Codierungen gebunden waren, die Machtverhältnisse einer phallokratischen Gesellschaft dargestellt und aufgelöst werden konnten.

In jener bewegten Zeit gab es ein Grundrauschen an Wohlwollen gegenüber den politischen und ästhetischen Forderungen der Frauen. In Deutschland hatte der Neue Deutsche Film ein Klima geschaffen für nicht kanonisierte filmische Formen. Frauen hatten neue Themen, in denen die weibliche Wahrnehmung der Welt zur treibenden Kraft wurde. Das Fernsehen wurde zum hauptsächlichen Träger der Frauenfilmbewegung, denn eine deutsche Filmindustrie existierte nur noch in Schrumpfform. Das Kleine Fernsehspiel im ZDF hatte eine heute undenkbare Freiheit. Als ich meinen ersten Film machte, fragte mich niemand, ob ich schon mal einen gemacht und wo ich das Filmemachen gelernt hätte. Es genügte, dass ich ein Thema hatte, das noch nie behandelt worden war – das Leben meiner Mutter – und eine genaue Vorstellung von der Form. Ich bekam die Produktionssumme und alle Rechte, den Film ins Kino zu bringen, und ich, eine reine Amateurin im Filmemachen, begann. Learning by doing. Dieses Schlaraffenland für Filmemacher und Filmemacherinnen war möglich nicht nur wegen des emanzipierten politischen Klimas, sondern auch weil die Budgets klein waren. Das zwang geradezu zu Experimenten, oft befreit ja der Mangel die Fantasie. Damals sagte man über deutsche Filme, und nicht nur über die von Frauen, sie seien unterkapitalisiert und überfantasiert.

Filme, die sich nicht der herkömmlichen Semantik bedienen, sind nicht populär, sie sind Nischenfilme. Die Filmemacherinnen hatten ein weibliches Publikum in vielen Kultureinrichtungen, einige ihrer Filme kamen auch ins Kino, viele wurden auf nationalen und internationalen Festivals gezeigt, erhielten Preise, und das Goethe-Institut sandte sie in sogenannten Frauenfilmpaketen rund um die Welt. Der Leiter einer brasilianischen Kinemathek sagte mir damals, der deutsche Autorenfilm sei der Avantgardefilm der Welt, und die Filme von Frauen hätten einen starken Anteil daran. Das Frauenfilmfestival von Sceaux, später Créteil, hat seinen ersten Jahrgang komplett mit den Filmen deutscher Frauen gemacht. Und mit dieser starken internationalen Wertschätzung im Rücken sah die erste Generation der Filmemacherinnen ihre Zukunft als eine stetige Bewegung von kontinuierlicher Arbeit mit größeren Budgets, wie es für die männlichen Kollegen, die zehn Jahre früher angefangen hatten, der Fall gewesen war.

Aber sie sind kalt erwischt worden von den Veränderungen seit den 80er Jahren. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und der Globalisierung zerfiel die Gesellschaft in Standortbedingungen mit vereinzelten Akteuren, die um ihren Arbeitsplatz kämpften. »There is no such thing as a society«, sagte Margaret Thatcher, und Hollywood sekundierte: »The winner takes it all.« Alphamänner nahmen sich das Recht, alle anderen, die sie für die Dümmeren hielten, auszurauben. Der alles beherrschende Markt unterwarf sich auch die Kultur. Film war jetzt vor allem ein Produkt der globalisierten Entertainmentindustrie zwischen Kinderzimmer und Barbarei. Eine neue Generation von jungen Frauen nannte sich topgirls oder Alphamädchen und wollte teilnehmen am Beutezug. Dieser gut ausgebildeten Generation waren die von ihren Vorgängerinnen erkämpften gesellschaftlichen Verbesserungen selbstverständlich. Sie hielten die Frauenbewegungen und den Feminismus für überholt; Emanze wurde zu dem Schimpfwort, das es schon einmal gewesen war. Und das feministische Modell des counter cinema war für sie ein Kino der ästhetischen Zuschauervergewaltigung. Das Genrekino übernahm die Herrschaft. In Leistungsgesellschaften fehlt es an Aufmerksamkeit für Lebensgeschichten, die nicht in das Muster der bereits bestehenden bestens ausgebildeten Eliten und ihrer cineastischen Formen passen.

In Komödien sonderten junge Frauen coole Sprüche ab und hopsten vergnügt durch die Lofts, als handele es sich um einen ewigen Kindergeburtstag. Nie erlagen sie auf der Suche nach Mr. Right oder Mr. Big den Asymmetrien im Geschlechterverhältnis, obwohl weiterhin Frauen und Männer auf den sexuellen und romantischen Märkten nicht zu gleichen Bedingungen agierten. Auch die Dichte an cineastischen Bluträuschen nahm rasant zu. In Thrillern mutierten die Frauen des früheren Film noir zu Killerinnen, und ihre Bereitschaft zu töten qualifizierte sie für das Lob, »starke Frauen« zu sein. Auch Künste sind Moden unterworfen. Und wenn die Meinung herrscht, dass eine gute Geschichte vom Außergewöhnlichen lebt, von der Personalisierung und dem stereotypen Gegensatz von Gut und Böse – wie erzählt man von den realen Erfahrungen von Frauen?

Schon in ihrer Blütezeit waren die feministischen Filme auf ihre Aussagen reduziert worden. Die Kritiker stützten mit viel Empathie die Männer des deutschen Autorenfilms, aber sie interessierten sich nicht für die Filme der Frauen. Sie hielten sie für Ableger der politischen Frauenbewegung und hatten keine Kriterien für deren eigene Ästhetiken und Handschriften, denn auch von den vielfältigen theoretischen Überlegungen der feministischen Filmwissenschaft hatten sie nichts wahrgenommen. Der Autorenfilm als Ganzes wurde im Neoliberalismus marginalisiert, doch die Filme von Frauen wurden vollkommen entsorgt – zusammen mit dem Kollektiv »Frauenbewegung«, das man für überholt hielt. Der Erfolg beim Film als arbeitsteiligem Industrieprodukt setzt regelmäßiges Arbeiten voraus, aber die Frauen der ersten Generation waren noch nicht lange genug im Geschäft, als dass ihre Namen sich nachhaltig eingeprägt hätten. Ihre Filme wurden nicht in den Kanon des deutschen Films aufgenommen, sie wurden nicht an den Filmhochschulen gelehrt, und auch die feministische ­Filmtheorie fand dort keinen Platz. Frauen hatten Geschichte geschrieben als politische und kulturelle Bewegung, doch seit den 90er Jahren war es so, als hätte das alles nie existiert.

Die Sieger schreiben die Geschichte, aber sie entkommt ihnen immer wieder in einer eigenen List, denn in ihr verbirgt sich auch das Negativ des Sichtbaren. Wenn man etwas über den Stand einer Gesellschaft wissen will, muss man betrachten, wie Frauen in ihr leben; sie sind die Seismographen. Feministische Reflexion war Sache einer Minderheit gewesen, aber die politischen Forderungen dieser Bewegung führten zu einer Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Immer mehr Frauen sind inzwischen bestens ausgebildet und nicht mehr bereit, sich zu bescheiden. Dass der angesammelte Unmut schließlich in der Bewegung #metoo explodierte, ist bezeichnend, denn das Schicksal des weiblichen Körpers in einer sexualisierten Gesellschaft ist die Basis, worauf sich alle Frauen einigen können. Nach langen Jahren der Vereinzelung kann man jetzt wieder sehen: Es ist bedrohlich, was herauskommt, wenn Frauen sich ­zusammentun und ihre Erfahrungen vergleichen.

#metoo wird zur Umwälzpumpe für das systemische Übel der phallokratischen Gesellschaften, das von den vielen expliziten und diffusen Formen von Gewalt und Abwertung bis zur gläsernen Deckereicht. Über die alte Forderung nach 50 Prozent lacht jetzt niemand mehr. Auch viele Männer sehen heute, dass dem deutschen Film in einer seiner ewigen Krisen weibliche Narrative fehlen, was die Themen, die Machart, den Blick auf die Welt betrifft. #metoo ist so von einer Protestbewegung gegen sexuelle Übergriffe zu einer Emanzipationsbewegung für die Sichtbarkeit von Frauen geworden. Die Diversität der Bilder und Erzählungen, die heute gefordert wird, entsteht nur, wenn viele Frauen künstlerisch arbeiten können. Die Frage der ersten Frauenfilmbewegung, ob Frauen alles machen sollen oder nur feministische Filme, hat sich erledigt. Frauen wollen Filme machen, egal welche, und dazu haben sie ein Recht.

Darunter werden dann gute Filme sein und nicht so ­gute. Aber wenn Frauen als Filmemacherinnen präsent sein werden in allen Sparten, wenn sie die Gefängnisse menschlicher Biografien öffnen und Selbstbestimmung zeigen, ist die gebotene demokratische Teilhabe eingelöst. Damit bekommt die alte Frage, was feministische Filmarbeit sein kann, neue Brisanz. Was kann ihr Kern sein in der entfesselten, globalisierten, sexualisierten und digitalisierten Zivilisation zwischen dem gepflegten Arthousefilm, den gewaltdurchtränkten Blockbustern und dem Suchtfaktor der Serien? Feministische Filmarbeit hatte immer einen starken Anteil ästhetischer und gesellschaftlicher Reflexion. Feminismus ist nicht einfach eine Gewerkschaft der Frauen, sondern ein kulturelles Interpretationssystem, dessen sich heute nicht nur Frauen, sondern auch Männer bedienen können, was sie zum Teil auch tun. Um die Kriterien wird jetzt gestritten. Ist es feministisch, die Reise des Helden, das noch immer bestimmende Kinonarrativ, einfach zu ersetzen durch die Reise der Heldin? Wonder Woman oder auch Katniss Everdeen aus den Tributen von Panem bieten Empowerment für junge Mädchen, die ihren Weg suchen. Und Schaulust und selbstgenügsames Fasziniertsein für die, die meinen, auch eine starke Heldin müsse sexy und sinnlich anregend sein. Aber eine feministische Lektüre sieht, dass diese beiden Heldinnen nur deshalb so mächtig sind, weil sie außerhalb der sexuellen Ordnung stehen. Die Vorstellung von einer Frau, die gleichzeitig über Macht und Sex verfügt, ist noch immer ein Tabu, denn Sexualität ist ein unsicheres Terrain, voll von Widersprüchen zwischen Macht und Erotik, Lust und Zwang. Wie weit kann der »feministische Film« den bisherigen Kriterien entsprechen?

Heute verändern die Technologien der Digitalisierung, der In-vitro-Reproduktion, der Gentechnik und der künstlichen Intelligenz menschliche Körper und Beziehungen rasant. Als das Kino in die Welt kam, erkannte Walter Benjamin in diesem neuen Medium das Training zu einer neuen Wahrnehmung – damals waren es das hektische Gezappel und die schnellen Schnitte, die die Leute fit machten für ihre neue urbane Gegenwart. Laura Mulvey analysierte den male gaze als Blickparadigma, denn die gesenkten Augen der Frau waren in der Wirklichkeit und ihrem filmischen Abbild der Beweis für ihre Ehrbarkeit. Und auch wenn Mulveys Theorie fortgeschrieben und modifiziert wurde, war die Konzentration auf den Blick das beherrschende Paradigma, so wie die Augen das herrschende Sinnesorgan der Moderne waren. Die Neurowissenschaften wissen heute, dass der Logos keine Erkenntnisse produziert ohne die Materie. Geist und Körper wirken zusammen, es gibt keine Erkenntnis ohne Empfindung, ohne Gefühl. Der Mensch ist kein abstraktes, denkendes Wesen, sondern zuerst ein Körper mit vielen Tausenden von Funktionen. Der abstrakte Mensch der bürgerlichen Philosophie, das ist der Roboter der künstlichen Intelligenz, unser schon heutiger und vermehrt künftiger Mitbewohner und Mitakteur. Er ist makellos – und hat keine Gefühle.

In #metoo ist nicht nur die Suche nach einer neuen Semantik der Liebe verborgen, sondern auch die nach einem neuen Menschenbild. Als geschlechtlicher, aber asexueller, als gentechnisch oder sexuell modifizierter, als behinderter, bedürftiger oder beschädigter Körper, selbst als Cyborg ist der denkende und fühlende Körper die Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch? Solche Fragen stellen Science-Fiction-Filme. Aber auch die rumänische Regisseurin Adina Pintilie stellt sie in »Touch Me Not«. Die Jury der Berlinale verlieh dem Film den Goldenen Bären mit der Begründung, hier zeige sich die Zukunft des Kinos. Die Empörung, die diese Entscheidung auslöste, zeigt, dass Pintilie einen Nerv berührt hat. Die Regisseurin, die auch als bildende Künstlerin arbeitet, wehrt sich gegen Genrebezeichnungen wie fiktionaler Film, Dokumentarfilm, Experimentalfilm und nennt ihre Arbeit einen Recherchefilm, einen Prozessfilm, ein sehr persönliches Forschungsprojekt für uns alle, ­­eine Selbstbefreiung von Voreingenommenheiten und ­Rezepten – in Bezug auf den Film als Medium.

Ähnliches hätte auch eine Pionierin der ersten Frauenfilmgeneration sagen können – Chantal Akerman etwa, deren »Jeanne Dielman« 1975 auf ein verständnisloses Publikum traf. Der Film erzählt nicht nur die Geschichte einer Hausfrau, die sich das Geld mit Prostitution verdient und in dem Moment, als sie einen ungewollten Orgasmus hat, ihren Kunden mit einer Schere ersticht. Vielmehr stellt »Jeanne Dielman«, heute ein Klassiker des feministischen Films, in seiner Form, in den langen Einstellungen, die die Protagonistin beim Kaffeekochen oder Kartoffelschälen zeigen, eine Recherche an über die Materialität und Alltäglichkeit im Leben einer Frau. Wenn man heute nach dem Körper fragt, ungeachtet ob es ein weiblicher oder ein männlicher oder ein Transkörper ist, seinem Ekel, der Wut, dem Trost und der Fremdheit, wie Pintilies Protagonisten sie erfahren, fragt man nach der Zukunft der Gesellschaft, in der Menschen noch mit Menschen zusammenleben wollen. Frauen sind ein Teil davon, sie haben ­keinen eigenen Planeten, den sie mit Rosen schmücken könnten. Ich fürchte, dass wir noch längst nicht die letzten Tage des Patriarchats erlebt haben, weil der Kapitalismus mit dem ­Phallozentrismus politisch immer neue Mutationen eingeht.

Jede Welle der Frauenbewegung hatte ihr großes Thema. Die erste hat Bildung für Frauen möglich gemacht, die zweite das Wahlrecht, die dritte die gesamten Gewaltverhältnisse thematisiert und mehr Frauen in viele Berufe gebracht. Vielleicht ist »Touch Me Not« der feministische Film der Gegenwart, wenn man Feminismus so begreift, wie ich das tue: als ein kulturelles Interpretationssystem. Der Film öffnet eine Tür. Was dahinter liegt, wissen wir noch nicht. Aber als Wegweiser könnte ein Satz der Kulturtheoretikerin Gerburg Treusch-Dieter dienen: »Weiblich ist, was die Arbeit macht für den Geist.«

Jutta Brückner, Regisseurin und Drehbuchautorin, hat neben ihrer Filmarbeit (u.a. »Hungerjahre«, »Ein Blick und die Liebe bricht aus«, »Hitlerkantate«) an der Hochschule der Künste in Berlin gelehrt; sie ist ­Vizedirektorin der Sektion Flm- und Medienkunst der Akademie der Künste. Gerade hat sie ihren ersten ­Roman geschrieben und bereitet einen neuen Film vor.

Meinung zum Thema

Kommentare

Danke für die wirklich interessante Lektüre!
Erstaunlich nur, wie selbstverständlich JB ausschließlich "deutsch" verwendet, jedesmal, wenn sie eigentlich "bundesdeutsch" oder "westdeutsch" meint. Ist das niemandem aufgefallen? Es gab doch auch, wenn auch wenige, deutsche Regisseurinnen in der DDR (Petra Tschörtner, Gabriele Denecke, Helke Misselwitz).

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