Die gefühlte Mordquote

Unsere "steile These" des Monats September
Unsere "steile These" des Monats September

»Das Böse ist immer und überall«, sang einst die Blödelband »Erste Allgemeine Verun­sicherung«. In einer Zeit sinkender Schwerkriminalitätsraten taugt die Allgegenwart des Bösen nur mehr für Witze oder reaktionäre Angstmacherei, möchte man meinen. Stimmt aber nicht.

Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefühlt hast, lautet das Credo der Fernsehmacher. Die wuchten im Monatstakt neue Ermittlerformate auf die deutschen Flatscreens und jazzen die entspannte Bedrohungslage individualisiert hoch: Meine Sache, wie bedroht ich mich fühle. Angst ist irrational wie die Liebe, kein Wunder, dass außer Krimis und Romanzen nichts mehr dauerhaft zu gehen scheint im deutschen TV. Und wie das gefühlte Wetter von launigen Wetterfröschen quer durch die Republik dekliniert wird, so wird auch föderal ermittelt: Verbrecher missbrauchen oder zerstückeln ihre Opfer ordentlich nach Stadt und Land, Ost und West aufgeteilt. Zielgruppe, ick hör dir trapsen. Gemeinsame Bedrohung ist doppelte Bedrohung und gesteigerte Quote.

Die Nachrichten verbreiten Furcht und Schrecken, die sie umrahmenden fiktionalen Formate bieten kathartische Auflösung der Angst. Ob kauzig oder konventionell, patent oder paranoid – sauber quotiert operieren Ermittler und Ermittlerinnen am offenen Herzen unseres Angst-Ichs. Der Beruhigungsschrittmacher wird auf 90 Minuten getimt. Drehbuchautoren stricken nach Schnittmuster – links die Tat, rechts die Aufklärung – am Plot der kleinen Dinge. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis der im Zuge des Münchner Amoklaufes berühmt gewordene Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins als Modell eines neuen Krimihelden herhalten wird – »Vom Sprecher zum Rächer«.

Erst wenn es keine Tatort-Polizeiruf-Soko-freie Kleinstadt mehr gibt, wenn kein Naturschutzgebiet vor einem Regionalkrimi mehr sicher und kein Dialekt vor seiner Einhochdeutschung bewahrt ist, werden wir begreifen, dass man Sicherheit nicht einschalten kann. Und uns noch mehr fürchten vor allem Neuen, das wir das Fremde nennen, weil all unsere Krimis Geborgenheit allein im Ritual unserer Angst und nie im Aufbruch ihrer Überwindung verheißen.

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