Kritik zu 127 Hours

© 20th Century Fox

Ein Mann, ein Fels: Danny Boyle verfilmt die wahre Geschichte des abgestürzten Kletterers Aron Ralston, der sich den eigenen Arm amputieren musste, um sich aus einem Canyon zu befreien

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Der Sturz dauert nur wenige Sekunden, verdichtet aber die Erfahrungen eines ganzes Lebens. Aron Ralston (James Franco), viriler Naturbursche und Kletterexperte, stürzt bei einer Wanderung im Blue John Nationalpark in eine Erdspalte und wähnt sich nahezu unversehrt. Als er zu sich kommt, folgt die lähmende Gewissheit: Sein rechter Unterarm liegt eingequetscht unter einem zentnerschweren Felsen. Es gibt kein Entkommen. Im Rucksack nur ein bisschen Wasser, Seile, Foto- und Videokamera. Handy? Fehlanzeige. Echte Abenteurer brauchen keine Handys.

Regisseur Danny Boyle ist kein großer Anhänger von gewöhnlichen Settings, die man bereits allzu oft im Kino gesehen hat. Mit großer Freude schickt er seine Figuren an ungewöhnliche und extreme Orte, wo meistens der Tod oder andere Unannehmlichkeiten lauern. In »Trainspotting« tauchte Ewan McGregor kopfüber durch ein randvoll mit Exkrementen gefülltes Klo, auf der Suche nach Drogen. Für »The Beach« verschlug es Leonardo DiCaprio auf thailändische Trauminseln, wo er vor hungrigen Haien und bewaffneten Drogenhändlern flüchtete. Cilian Murphy musste in »Sunshine« sogar durch das Weltall bis zur Sonne reisen, wo ihn ein verkohlter Zombie empfing. In seinem letzten Film, »Slumdog Millionär«, skizzierte er zum ersten Mal die Stadt als großes, gefräßiges Monster. Mumbai, der vibrierende und niemals ruhende Millionenmoloch Indiens, wurde auch für den Regisseur zur persönlichen Grenzerfahrung, und das, obwohl er vorher selbst sagte: »Ich war noch nie ein Fan von ruhigen und beschaulichen Orten. Ich mochte eigentlich auch »The Beach« nicht. Was suchen diese Leute auf einsamen Inseln? Mich zieht es immer wieder in die pulsierenden Städte, wo ich zur Ruhe kommen kann und meine Geschichten erzählen möchte.«

Und nun »127 Hours«. Ein kompletter Gegenentwurf zu seinem oscarprämierten Vorgängerfilm, der im Farbenrausch ein modernes Liebesmärchen erzählte und das Bollywoodkino zitierte. Der Prolog von »127 Hours« wirkt wie ein rascher Abschied von der Zivilisation: In Splitscreens montiert Boyle moderne Massenveranstaltungen, bei denen sich die Menschen zu unübersichtlichen Ameisenhaufen akkumulieren. Er zeigt den Start eines Großstadtmarathons, beobachtet wie Tausende mit den Stieren durch die berühmten Straßen von Pamplona rennen, und zoomt hinein in den hektischen Broker-Alltag der Wall-Street-Börse. Wie oft in seinen Filmen schneidet er die Bilder in moderner Videoclipästhetik, illustriert großes urbanes Popkino. Sein Protagonist Aron Ralston flieht noch in der Nacht über gigantische Highway-Kreuzungen aus der Großstadt in die Natur. Zuerst per Fahrrad, anschließend zu Fuß wandert er durch den Blue John Canyon Nationalpark in Utah. Orangenfarbene und zerklüftete Felsen, so weit das Auge reicht, nirgendwo eine Menschenseele. Ein Traum für Kletterer und Abenteurer.

Aus Ehrfurcht vor dem recht statischen Plot erlaubt sich Danny Boyle sogar den Luxus, einen seiner eigenen Filme zu zitieren. Wie in »The Beach« trifft der Protagonist auf ein Pärchen (hier sind es zwei junge Frauen), das eine gemeinsame Mutprobe bestehen muss. Damals sprang das Trio von einem Wasserfall, diesmal stürzen die drei Jungspunde eine Felsspalte hinab in einen kristallklaren unterirdischen See. Ein letztes emotionales Hoch vor dem großen Unglück: Kurz nach dem Abschied stürzt Aron Ralston in die Tiefe, gefangen mit dem Felsen.

Es folgt – wie eigentlich naheliegen würde – weder Horrorfilm noch Psychodrama. Boyle brilliert stattdessen mit einer knapp einstündigen Meditation über das Leben mit all seinen glorreichen und unwiederbringlichen Momenten. Den sprichwörtlichen Filmflash, den Todgeweihte und Unfallopfer vor dem geistigen Auge vorbeiziehen sehen, streckt der Regisseur hier für seinen Protagonisten auf die titelgebenden 127 Stunden. Ralston erinnert erinnert sich wehmütig an die besten und intensivsten Momente seines 27-jährigen Lebens: Sonnenaufgänge als kleiner Junge an der Seite seines Vaters, der erste Camcorder, die große Liebe. Boyle verhandelt Tod und Überleben niemals mit einfältigem Pathos oder Verzweiflung. Sein Held bedarf auch keiner »divine intervention« oder religiösen Erfahrung, um sich aus seinem Schlamassel zu befreien, dafür ist der Regisseur nicht gläubig genug. Es ist vielmehr der intensive und infernalische Beweis dafür, wie ein Mensch seine Verzweiflung kanalisieren und bündeln kann, sofern er sich dem bedingungslosen Lebenswillen unterwirft. Der grobe Brocken, der den Protagonisten einquetscht, wird zum mächtigen Felsen der Erkenntnis: »Er hat mein gesamtes Leben hier auf mich gewartet«, sagt Aron Ralston bitter. Dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, ist dem Film natürlich ziemlich zuträglich. Dass sich James Franco in diesem Quasieinpersonenfilm nach Howl endgültig im Charakterfach etabliert hat, dürfte nicht mehr angezweifelt werden. Einen Schauspieler von vergleichbarer Vielseitigkeit und Intensität hat es in Hollywood schon länger nicht mehr gegeben – und dass, obwohl er von einem Felsen gefangen gehalten wird.

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