Interview mit Håkan Nesser über seine »Intrigo«-Trilogie

Weil das Leben keine Ordnung hat, muss man sie erschaffen
Håkan Nesser (2018). © 20th Century Fox

Håkan Nesser (2018). © 20th Century Fox

Håkan Nesser gilt als der philosophisch-psychologische Filigranarbeiter unter den skandinavischen Autoren. Seine Helden, die ­Polizisten Van Veeteren und Barbarotti, streifen stets an den Rändern des ­Krimigenres umher. Jetzt startet der erste Film nach drei frühen ­Erzählungen, in denen es um Schuld und Rache geht. Und um Männer, die von Frauen ­verlassen werden

Drei Verfilmungen Ihrer Kurzgeschichten durch einen Regisseur: Wie kam es zu diesem Projekt, und in welchem Stadium sind Sie dazugestoßen?

Das war vor vier Jahren zunächst die Idee einer schwedischen Fernseh-Company, die dann auch Daniel Alfredson als Regisseur angeheuert hat. Dann ging sie bankrott, aber Daniel wollte trotzdem weitermachen. Wir sprachen darüber und haben schließlich »Dear Agnes«, »Samaria« und »Tod eines Autors« ausgewählt, ältere Geschichten, die 1996, 1999 und 2000 unabhängig vonein­ander in verschiedenen Sammlungen, zum Teil auch in Deutschland, veröffentlicht wurden. Die Länge der Geschichten ist ein wesentlicher Grund, dass sie jetzt ausgewählt wurden. Ein Filmdrehbuch hat für 100 Minuten ungefähr 100 Seiten, das heißt, bei einem Roman muss man sehr viel kürzen – diese Geschichten haben die perfekte Länge fürs Kino. So hat Daniel Alfredson ­zusammen mit seiner Frau Ditta als Koautorin dann die drei Drehbücher geschrieben; ich war nur gelegentlich involviert.

Was ist der thematische Rahmen dieser ­Trilogie?

Sie kreist um Schuld und um Rache, um den Versuch, die Balance wiederherzustellen. Es geht um menschliche Schwächen, um Männer, die von Frauen verlassen werden, was kompliziert ist; wahrscheinlich ist es auch für eine Frau schwierig, von einem Mann verlassen zu werden, aber umgekehrt ist es noch schwieriger. Das sind die zentralen Themen.

Sie gelten als der Philosoph unter den Krimiautoren. Im Grunde ist das Romaneschreiben für Sie nur ein Vorwand, um über die condition humaine nachzudenken, oder?

Das ist doch ein guter Vorwand, oder nicht? Das stimmt absolut, darum geht es beim ­Schreiben, natürlich aus einer sehr amateurhaften Perspektive: Warum tun wir die bösen Dinge, die wir gar nicht tun wollen? Warum behandeln wir uns gegenseitig so schlecht? Gibt es einen Gott? Was ist der Sinn des Lebens? All diese existenziellen Fragen, die man nie zufriedenstellend beantworten kann, mit denen wir aber leben. Genau darum geht es beim Schreiben, beim Filmedrehen oder beim Komponieren von Musik. Immer dreht sich alles um diese ­fundamentalen Lebensfragen.

Gleichzeitig ist das Schreiben für Sie auch ein Vorwand, die Welt zu bereisen. Sie haben in New York und London gelebt, für den Roman »Elf Tage in Berlin« auch längere Zeit in der deutschen Hauptstadt recherchiert.

Vielleicht brauchen wir immer einen Vorwand, um zu leben. Und wir können nicht im Chaos leben, wir müssen eine Form der Ordnung schaffen, aus dem eigenen Leben eine Geschichte bauen, um zu klären, was wichtig ist, was nicht, und welchen Weg ich nehmen will. Wenn wir nicht versuchen, da eine gewisse Ordnung hineinzubringen, werden wir verrückt. Im Grunde ist das wie Alzheimer, wenn die Erinnerung angegriffen wird und man die Teile nicht mehr zusammenfügen kann. Weil das Leben keine Ordnung hat, muss man sie erschaffen – eine Geschichte zu schreiben oder zu lesen, ist eine Art, diese Ordnung herzustellen.

Sie haben also ein Thema, das Sie interessiert, oder den Kern einer Geschichte: Wie geht es dann weiter zwischen Recherche und Erfindung?

Ich gehe da nicht thematisch heran, das entwickelt sich sehr viel organischer. Ich fange mit einer Situation an, und der einzige Weg, das Ende herauszufinden, ist, die Geschichte zu schreiben; erst in diesem Prozess bekomme ich die Antworten. Nehmen wir »Intrigo«. Im Buch fängt es damit an, dass der Typ im Radio Musik hört, während er ein Glas Wein trinkt, und dann erkennt er im Zuschauerraum das Räuspern seiner Frau, die seit drei Jahren tot sein soll. Und das ist mir passiert, ich habe im Radio die Aufnahme eines Konzertes mit Publikum gehört, irgendjemand hatte gehustet, und ich fragte mich, ob es möglich ist herauszufinden, wer diese Frau ist? So begann die ganze Geschichte.

Wie nah fühlen Sie sich den beiden von Ben Kingsley und Benno Fürmann gespielten Schriftstellern, über die Sie da geschrieben haben?

Das kann ich nicht wirklich sagen. Diese Geschichte habe ich vor fast 25 Jahren geschrieben, da hatte ich noch gar nicht so viel Erfahrung als Schriftsteller. Sicher, es geht um Schriftsteller, um einen aufwendig ­konstruierten Text; der ältere Schriftsteller benutzt den jüngeren, in einem sehr komplizierten Plan. Damals fand ich interessant, wie viel man in einem Buch, in einem Text verstecken kann, und wie einflussreich ein Buch sein kann. Zum Beispiel: der Mord an John Lennon. Der Typ, der es getan hat, Mark Chapman, las »Der Fänger im Roggen« von Salinger und entdeckte darin die verborgene Nachricht, dass er John Lennon umbringen sollte. Natürlich gab es keine derartige Nachricht, aber er hat reininterpretiert, dass es seine Pflicht sei, loszuziehen und John Lennon zu erschießen. Bücher können eine enorme Kraft entwickeln, mit all diesen kleinen Worten und Anspielungen kann man Menschen beeinflussen.

»Intrigo« ist auch eine Geschichte über das fragile Verhältnis von Realität und Fiktion: Wie sehen Sie das als Autor?

Dieses Verhältnis von Realität und Fiktion macht Literatur aus. Man schlägt ein Buch auf und weiß, dass es ein Roman ist, der erfunden ist, aber wahr sein könnte. Die guten Geschichten bewegen sich in diesem Graubereich zwischen Realität und Fiktion. Das wahre Konzept des Lebens ist das Chaos, mittels der Sprache schafft man Ordnung. Sobald ich den Dingen einen Namen gebe und über sie schreibe, fange ich ja schon an, die Realität zu fiktionalisieren. Dies ist ein Tisch, das ist ein Telefon, wir haben eine Übereinkunft getroffen, dass wir das als Tisch bezeichnen. Aber ist es ­wirklich einer? Ist das Fiktion oder Realität, da wird es im Grunde bereits philosophisch. Gut, es ist ein Tisch!

Was bedeutet es Ihnen, dass Daniel Alfredson auch der Regisseur von zwei der ursprünglichen »Millennium«-Verfilmungen nach Stieg Larsson ist?

Mir persönlich bedeutet das gar nichts, das ist einfach gut für die Vermarktung des Films. Ich schätze Daniel als Regisseur, darüber hinaus gibt es keine Verbindung zwischen den beiden Trilogien. Das manche das jetzt als neue »Millennium«-Trilogie bezeichnen, ist nur ein Werbetrick. Dass es drei sind, ist die einzige Übereinstimmung.

Gehören Sie eher zu den schwierigen Autoren, wenn es darum geht, Ihre Geschichten zu verfilmen, oder fällt es Ihnen leicht, loszulassen?

Mir fällt das ganz leicht, denn ein Buch ist ein Buch, und ein Film ist ein Film! Mir ist klar, dass es da einen Unterschied gibt, und ich bin für das Buch verantwortlich und nicht für den Film. Ich kenne mich im Filmgeschäft auch gar nicht aus, habe keine Dreh­bücher geschrieben und war in diesem Fall nur deswegen ein bisschen involviert, weil Daniel mich einbeziehen wollte. Aber wenn das nicht so ist, macht es mir gar nichts aus, es geschehen zu lassen, ohne mich einzumischen, und einfach nur zu hoffen, dass ich in guten Händen bin. Bisher war ich mit dem Ergebnis noch nie unglücklich. Auch diese drei Filme gefallen mir sehr gut; das sind keine spektakulären Filme, aber gut erzählte Geschichten, auf eine altmodische Weise, fast ein bisschen so wie Hitchcock-Filme. Als Zuschauer lehnt man sich zurück und wartet, was passiert. Man muss wachsam sein, um nichts zu verpassen.

Heutzutage ist das horizontale Erzählen in aller ­Munde. Mit Ihren Krimireihen über die Kommissare Van Veeteren und Barbarotti haben Sie das im Grunde schon sehr viel früher betrieben.

Für mich war das keine kommerzielle Entscheidung. Wenn man eine Kriminalgeschichte schreibt, dann nimmt der ­Krimi innerhalb des Romans sehr viel Raum ein. Der Kommissar oder ein Detektiv kommt, um das Problem zu lösen. Aber eigentlich fehlt der Raum, um ihn als Figur zu entwickeln, weil er im Grunde ja wie der Leser auch nur ein Beobachter ist. Um ihn als Figur zu entwickeln, ihn zum Leben zu erwecken, ihm Herzblut zu geben, braucht man mehr als ein Buch. Ich schreibe nur Dinge, die ich auch selbst gern lesen würde. Es ist schön, eine Figur zu haben, die immer wiederkehrt und jedes Mal mit einem neuen Problem zu tun hat.

Inzwischen haben Sie Van Veeteren nach zehn und Barbarotti nach fünf Romanen zurückgelassen: Könnten Sie sich denn vorstellen, sie in einer späteren Lebensphase wieder aufzugabeln?

Das habe ich tatsächlich bereits getan: Gerade kommt in Schweden ein neues Buch heraus, in dem beide zusammenarbeiten. Mit Dietmar Bär, einem der Tatort-Kommissare, der auch meine Hörbücher spricht, bin ich befreundet. Wir machen immer wieder Lesungen zusammen, und er bedrängt mich seit Jahren, noch mal einen Barbarotti zu schreiben. Es gibt auch Leser aus Deutschland, die nach Van Veeteren fragen. Nachdem ich lange abgelehnt habe, hatte ich jetzt diese Geschichte, in die sie beide reinpassen, und ich dachte: Warum nicht? In Deutschland kommt das Buch nächstes Jahr heraus, aber das wird dann wirklich das letzte sein.

Ihr erstes Buch war eine Liebesgeschichte: Wie kamen Sie dann zum Krimi?

Glauben Sie, da gibt es einen Unterschied? Von der Liebe zum Verbrechen – das ist doch eine ganz natürliche Entwicklung. Nein, ich hatte einfach eine Geschichte, die als Krimi erzählt werden musste. Ich hatte auch gar nicht den Plan, dann noch neun weitere zu schreiben. Ich habe einfach einen Krimi geschrieben und dem Verlag geschickt. Damals gab es den schwedischen Krimiboom noch nicht, Henning Mankell und ich fingen im Grunde zur gleichen Zeit an, dann wurde es eine Welle, ein Tsunami.

Wie erklären Sie sich das Phänomen, jetzt, 20 Jahre später?

Es ist seltsam, ich dachte, das geht vorbei. Doch dann kam die »Millennium«-Trilogie, die den nordischen Krimi neu befeuert hat.

Wie deuten Sie die besondere Affinität der Deutschen zu den Schwedenkrimis?

Das ist schwer zu sagen. Es hat wohl vor allem mit Astrid Lindgren zu tun. Die Deutschen sind mit Bullerbü, Michel aus Lönneberga und Pippi Langstrumpf aufgewachsen. Dadurch ist ihnen die schwedische Welt mit den kleinen roten Hütten und den weiten, einsamen Landschaften fast so vertraut wie die eigene Heimat. Und wenn sie dann erwachsen werden, bleiben sie dem treu, brauchen aber auch mehr Spannung, mehr Blut, mehr Düsternis.

In Ihrem Leben scheint sich alles sehr fließend zu entwickeln, auch der Wechsel vom Lehrer zum Schriftsteller: Wie kam es dazu?

Viele Jahre habe ich beides gemacht, mein erster Van Veeteren kam schon 1993 heraus, und ich habe bis 1998 als Lehrer gearbeitet. Aber dann wurde mir klar, dass meine Bücher gelesen und übersetzt wurden, ich wurde in andere Länder eingeladen und hatte gar nicht mehr die Zeit zu unterrichten. Außerdem ist es leichter, ein junger Lehrer zu sein; man braucht sehr viel Energie, ich war sehr engagiert, habe viele Schultheaterprojekte organisiert. Wenn man älter wird, muss man eine neue Strategie entwickeln; für meine früheren Kollegen wurden die letzten zehn Jahre sehr hart. Ich habe das Unterrichten sehr geliebt, aber nach mehr als 20 Jahren war es Zeit aufzuhören.

Sind Sie denn vielleicht auch als Schriftsteller in gewisser Weise noch Lehrer?

Nicht wirklich, das sind zwei unterschiedliche Bereiche. Sicher, da gibt es die Themenbereiche Philosophie, Religion, Wissenschaft – aber versucht man nicht auch in der Schule, die ganze Realität zu vermitteln? Nein, da sehe ich keine echte Verbindung. Ich habe zwar Literatur unterrichtet, also immer viel gelesen. Aber letztlich hätte ich dieselben Geschichten auch als Tischler, Feuerwehrmann oder Bauer schreiben können.

Ihre ersten Geschichten wurden in Schweden verfilmt, davon ausgehend dann auch bald in Deutschland: Gibt es Wunschorte, an die Sie Ihre Geschichten gern reisen sehen würden?

Eher nicht. Im Moment gibt es viele verkaufte Optionen, Barbarotti fürs schwedische Fernsehen, die fangen nächstes Jahr mit dem Dreh an. Eine dänische Produktionsgesellschaft hat das New-York-Buch – »Die Perspektive des Gärtners« – gekauft; das wird sicher ein wunderbarer Film, aber es geht so langsam voran, die arbeiten schon seit sieben oder acht Jahren daran. Und es gibt eines, das in England spielt, das wurde von einer Hollywoodfirma gekauft. Aber Sie wissen ja, man verkauft Optionen, und 19 von 20 kommen nicht zustande.

Ein echtes Wunschprojekt haben Sie nicht?

Nicht wirklich. Viele denken, wenn ein Buch zum Film wird, sei das ein Highlight. Ja, sicher, es macht Spaß, aber ich möchte, dass die Leute die Bücher lesen. Filme werden die Leute immer anschauen, viel wichtiger ist, dass sie auch mal ein Buch in die Hand nehmen. Ich bin eben Schriftsteller!

Trotzdem kämpfen Sie nicht um ihre Worte.

Man muss sich seine Schlachtfelder auswählen. Fang nie Kämpfe an, die du nicht gewinnen kannst! Um im Filmgeschäft zu arbeiten, muss man halb verrückt sein, denke ich, weil es so komplex ist. Es macht Spaß, das zu beobachten, man sieht diese vielen Menschen, die auf dem Set herumlaufen, alle warten und warten, essen, reden, trinken Kaffee, und dann, plötzlich, badang, badang, badang!, sind alle hochkonzentriert. Drehen ist Ordnung im Chaos, das ist wundervoll. Aber ich könnte das nicht ertragen, ich würde nur rumschreien: Was macht ihr da? Lasst uns anfangen!

Im Film gibt es atemberaubende Bilder weitgehend unberührter Natur: War das auch in der literarischen Vorlage schon so?

Nicht in so starkem Maße. Ich habe versucht, die Schweizer Alpen zu beschreiben, aber im Film ist das stärker. Es ist viel einfacher, die Schönheit der Landschaft mit einer Kamera einzufangen als mit Worten. Es ist besser, die Natur anzuschauen, statt zu versuchen, sie zu beschreiben. Im Buch kann man die Natur und die Locations umgehen. Im Film geht das nicht, weil man alles sieht, was Filme von vorn­herein komplizierter macht. Diese drei Filme wurden im letzten Sommer in sieben europäischen Ländern gedreht, von Serbien nach Kroatien, Llubljana, Antwerpen, da muss viel aufgebaut werden, und man muss ständig aufpassen, dass nicht irgendwelche Fehler im Bild zu sehen sind. Beim Bild kann man leicht etwas falsch machen. Im Vergleich ­dazu ist das Schreiben so einfach.

Sie haben vor einigen Monaten verkündet, Sie würden nur noch ein Buch schreiben. Bleibt es wirklich dabei?

Damals dachte ich das, aber es gibt nicht so viele Dinge, die ich tun kann. Also werde ich vermutlich weiterschreiben, solange ich lebe. Aber ich kann den Prozess verlangsamen, vielleicht alle zwei oder drei Jahre ein Buch. Es macht mir ja schließlich auch Spaß!

Håkan Nesser, Jahrgang 1950, wuchs im schwedischen Kumla auf, studierte in Uppsala unter anderem Literaturgeschichte, Englisch und Skandinavistik und arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang als Gymnasiallehrer. 1988 erschien sein Roman »Koreografen«, fünf Jahre später der erste von zehn Krimis um den in einem fiktiven Land ermittelnden Kommissar Van Veeteren. Neun Van-Veeteren-Folgen und zwei Filme um seinen Nachfolger, den launigen Italo-Schweden Gunnar Barbarotti, wurden fürs Fernsehen gedreht (auch auf DVD). Von seinen ›autonomen‹ Werken hat der atmosphärische Initiationsroman »Kim Novak badete nie im See von Genezareth« den Weg ins Kino gefunden.Nesser lebt heute in London und auf Gotland; die meisten seiner Romane sind bei btb als Taschenbuch erhältlich.

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