Favoriten-Zwist in Venedig

Roma (2018). © Netflix

Roma (2018). © Netflix

Mit Alfonso Cuaróns 70er-Jahre-Familiendrama »Roma«, Yorgos Lanthimos' Historiengroteske »The Favourite« und Olivier Assayas »Double vies« begeben sich drei hochkarätige Preis-Anwärter ins Rennen um den Goldenen Löwen

Der neue Film von Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón hätte schon im Mai auf dem Festival von Cannes laufen sollen. Dass »Roma« nun, drei Monate später, seine Premiere in Venedig feierte, belegt einmal mehr die starke Marktmacht von Netflix. Nachdem Cannes auf Druck der französischen Verleih- und Kinoindustrie den Wettbewerb für Filme des Streaminganbieters sperrte, zog Netflix alle seine fürs Programm vorgesehenen Produktionen ab – und zeigt sie nun sämtlich am Lido.

Cuaróns »Roma« wurde schon im Mai als Favorit auf einen Preis gehandelt, die Premiere in Venedig hat die Anwärterschaft des Mexikaners auf einen Löwen und womöglich im Februar auch auf einen Oscar nun bestätigt. »Roma« spielt im gleichnamigen Stadtteil von Mexiko-Stadt und ist eine Hommage an das stille Wirken der Hausmädchen, die auch Cuaróns Kindheit geprägt haben. In nuancenreichem Schwarzweiß zeigt der Film ein bürgerliches Familienleben im Umbruchschaos der frühen 70er Jahre. Dicht an der Perspektive seiner indigenen Heldin lässt Cuarón Tage und Wochen mit den Alltagsverrichtungen des Hausmädchens Cleo vergehen. Sie putzt, macht die Wäsche, holt den Kleinsten von der Schule ab. Wenn sie abends mit vor dem Fernseher sitzt, reicht sie nebenher noch Snacks und räumt das dreckige Geschirr weg.

Wie der »kleine« Alltag mit den großen Ereignissen manchmal mehr, manchmal weniger kollidiert, fängt Cuarón in langen Einstellungen und Fahrten ein, in denen die Kamera oft erst eine ganze Straße filmt und im Vordergrund eine Militärmusikkapelle vorbeiziehen lässt, während im Hintergrund das Hausmädchen auf ihrem Weg ins Kino ins Bild läuft. Cuarón gelingen auf diese Weise großartige Panoramen, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erzählen. Über den Regie-Kunststücken droht ihm leider seine Heldin zum madonnenhaften Beispiel zu verkommen.

Auch dem neuen Film des Griechen Yorgos Lanthimos (»The Lobster«) wurde der Erfolg schon lang vor seiner Premiere vorhergesagt. Mit »The Favourite« legte der griechische Regisseur nun sein bislang zugänglichstes Werk vor. Olivia Coleman spielt die Anfang des 18. Jahrhunderts über das britische Königreich herrschende Anne. An vielerlei Zipperlein leidend neigt sie zu Wankelmut und Wehleidigkeit, die Regierungsgeschäfte liegen fest in der Hand ihrer »Favoritin«, der von Rachel Weisz gespielten Lady Sarah. Als sie eines Tages ihrer verarmten Cousine Abigail (Emma Stone) einen Job am Hofe gewährt, beginnt ein erbarmungsloses Ringen um Macht.

Lanthimos filmt den höfischen »Zickenkrieg« in elaborierten Bildern und üppiger Ausstattung. Die Dialoge sind schneidend und böse, es gibt weit und breit keine sympathischen Figuren. Im historisch-realistischen Setting aber geht Lanthimos eine Qualität verloren, die seine vorigen Filme so bestechend machten: das entrückt-fantastische Element, die absurde Logik etwa, mit der in »Lobster« die Verpaarung als gesellschaftliche Pflicht betrieben wurde. So läuft letztlich »The Favourite« auf wenig mehr hinaus, als dass auch Frauen unter sich den Sex als Machtspiel einsetzen.

Im Kontrast zu Cuarón und Lanthimos hat der Franzose Olivier Assayas den Status eines Regisseurs, dessen Filme automatisch Favoritenstatus einnehmen, schon länger verloren. Umso erfreulicher ist die Überraschung, die er dem Publikum in Venedig nun mit »Double vies« bereitete. Noch kein Film am Lido war bislang so nah an der Gegenwart. Gesprochen wird in »Double vies« über Twitter und eBooks, süchtigmachende Serien und Fake News, über den Untergang der Buchkritik und die digitale Transition – und über Dichtung und Wahrheit.

Ein Autor, sein Verleger, dessen Frau und ihr Liebhaber: Die »Double vies« seiner Helden entblößt Assayas mit sanfter, melancholischer Heiterkeit und zeigt dabei, dass vieles gleich bleibt, auch wenn ständig von Neuerungen, Veränderungen und Umbrüchen die Rede ist. Für seine treffenden, regelrecht funkelnden und nie langweiligen Dialoge hätte »Double vies« in jedem Fall zumindest den Drehbuchpreis verdient.

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