Über die Grenzen

Ein Vorbericht zum LICHTER Filmfest Frankfurt International (29.3. bis 3.4.2016)

Zum bereits neunten Mal lädt das LICHTER Filmfest Frankfurt International dieses Jahr ein, Filmwerke und ihre Schöpfer aus der Region kennenzulernen. Den Horizont des Publikums und das Programm des Festivals erweitern, aber auch internationale Produktion, die als Wasserstand über die Vernetzung der verschiedenen künstlerischen Zweige weltweit dienen können, wollen die Macher zeigen. Eröffnet wird das Festival mit einer Weltpremiere: Cho Sung-hyungs (»Full Metal Village«) neuester Dokumentarfilm »Meine Brüder und Schwestern im Norden«.

Seit Monaten und Wochen sieht man in den Nachrichten und liest in den Zeitungen von Menschen, die aus ihrem Land flüchten, auf der Suche nach Schutz, Hoffnung und einem neuen Leben in Europa. Ländergrenzen verschwimmen und werden in Frage gestellt. Doch nicht nur an solche Grenzen hat das LICHTER Filmfest-Team als Stichwortgeber für ihr Festivalthema, GRENZEN, gedacht. Eine Grenze kann nicht nur geographische Räume teilen und voneinander trennen, sondern auch Menschen. Wortwörtlich sollen somit auch Menschen in Grenzsituationen beobachtet und studiert werden. Ein kleiner Einblick in das Programm des Filmfests.

Was die Berlinale aus unbekannten Gründen ablehnte, wird vom LICHTER Filmfest mit Freuden und Stolz aufgenommen. »Meine Brüder und Schwestern im Norden« wird als diesjähriger Eröffnungsfilm seine Weltpremiere auf dem Festival feiern. Filmemacherin Cho Sung-hyung wirft in dem von der Filmförderung des Landes Hessen und der Filmförderung des Hessischen Rundfunks unterstützen Film ein völlig neues Licht auf Nordkorea und seine Menschen. Als erste südkoreanische Filmemacherin überhaupt durfte sie dort, wenn auch unter strengen Vorschriften, filmen. Der Eröffnungsfilm schlägt dabei clever die Brücke von seinem regionalen Kosmos zum Thema des Festivals. Die Südkoreanerin Cho Sung-hyung ist schon länger im Großraum Frankfurt - welches als größte nordkoreanische Community Europas gilt - tätig. Sie studierte an der HfG Offenbach und war und ist seitdem in der Region in vielen weiteren Positionen tätig. Cho Sung-hyung ist deshalb selbstverständlich auch immer ein gern gesehener Gast auf dem Lichter Filmfest. Sie war letztes Jahr mit ihrem Film »Verliebt, Verlobt, Verloren« im Rahmen eines Test-Screenings auf dem Festival vertreten und konnte 2009 mit »Endstation der Sehnsüchte« den Preis für den besten Langfilm einheimsen.

Diesmal frisch von der Berlinale, aber als Hessenpremiere, stellt das Festival »Les Sauteurs (Those who jump)« vor. Die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner treffen in dem Film den Malier Abou Bakar Sidibé. Der Clou: Sie geben ihm ihre Kamera und fortan erzählt er, mit der Kamera in der Hand, seine Geschichte selbst. Ein persönlicher Blick auf sein Leben auf dem Berg Gurugu in Marokko, der den Bewohnern einen Blick auf die spanische Enklave Melilla bietet. Tagein, tagaus sehen die Menschen die von ihnen abgeschottete EU. Ihr Ziel. Die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Sidibés Aufnahmen vom Versuch der Flucht werden geschickt mit Aufnahmen der Überwachungskamera an den Grenzen zwischengeschnitten und ermöglichen dem Zuschauer auf diese Weise einen ganz besonderen und weitaus intimeren Blick auf ein Thema, das so omnipräsent in den Medien zu sein scheint.

Einen völlig anderen Blick auf die aktuellen, politischen Geschehnisse wirft die syrische Filmemacherin Sara Fattahi mit dem Dokumentarfilm »Coma«, der seine Rhein-Main-Premiere feiern wird. Erst kürzlich fand die Premierenvorstellung innerhalb der Woche der Kritik auf der Berlinale statt. Fattahi filmte für den Film über Jahre ihre Mutter und Großmutter in Damaskus. Während draußen der Bürgerkrieg tobt, sind sie wie in einem Gefängnis in ihrem eigenen Haus gefangen. Doch auch sie werden zu der Erkenntnis kommen, dass sich für immer solche Grenzen nicht ziehen und halten lassen können. 

»The Lobster« (2015). © Cannes 2015

Die thematischen Grenzen, so Festivalleiter Gregor Maria Schubert, werden aber auch ausgelotet und verschoben. So findet ein Film wie »The Lobster« seinen Weg in das Programm. Der mit vielen bekannten Gesichtern, u.a. Colin Farrell, Rachel Weisz, Ben Wishaw und Léa Seydoux, besetzte Film spielt in einer Zukunft, wo die Trennung von seinem Partner dazu führt, dass man innerhalb von 45 Tagen in einer Art Camp einen neuen Partner finden muss, ansonsten wird man in ein Tier (seiner Wahl) verwandelt. Eine schräge Prämisse, die sich hier dem Thema der Ausgrenzung von Personen aus einer fest verwobenen Gesellschaft mit strikten Regeln annähert. Der erste englischsprachige Film des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos (»Dogtooth« - Oscar-nominiert!) gewann letztes Jahr in Cannes den Preis der Jury, fand aber leider nicht den Weg in die deutschen Kinos. Der Verleiher wird das Werk hierzulande nur auf DVD veröffentlichen. Somit stellt die Vorstellung auf dem Festival vielleicht die letzte Chance dar, den Film in Deutschland auf großer Leinwand erleben zu können.

In einer völlig anderen Grenzsituation befinden sich auch die Menschen in »The Other Side«. Situiert im südlichen Amerika, genauer Louisiana, offenbart Roberto Minervini einen Mikrokosmos an Amerikanern, dem "White Trash", für die der amerikanische Traum nur noch ein Schreckgespenst ist. Ihr Alltag ist trist, und Trost finden sie oft nur noch im Konsum von Drogen oder Alkohol. Ungeschönt entsteht so ein Bild von Enttäuschten und Ausgegrenzten mitten im Herzen von Amerika. Ausgegrenzt lebt auch die »Dog Lady« mit ihren Hunden am Rande des argentinischen Buenos Aires. Die Regisseurinnen Laura Citarella - gleichzeitig auch Hauptdarstellerin - und Verónica Llinás porträtieren eine Frau, welche losgelöst von jeglichen gesellsschaftlichen Zwängen versucht ein Leben ohne Sprache, aber völliger Selbstbestimmung zu meistern.

Grenzbrüche innerhalb von Genres begeht Clément Cogitore mit seinem Film »The Wakhan Front (Ni le ciel ni la terre)«, wenn Freund und Feind im Kampf von Soldaten gegen die Taliban plötzlich in einer afghanischen Gebirgskette spurlos verschwinden und keine rationale Erklärung gefunden werden kann. 

Prestigeträchtig wird es wieder, wenn man im Programm »El abrazo de la serpiente (Embrace of the Serpent)« entdeckt. Das Werk aus Kolumbien gewann nicht nur den Art Cinema Award in Cannes, sondern war auch jüngst bei den Oscars als "Bester fremdsprachiger Film" nominiert. In zwei Erzählsträngen werden in schwarz-weißen Aufnahmen gleichzeitig die Tragödien des Kolonialismus widerbelebt, als auch die Schönheit des Amazonas eingefangen. Die beiden Protagonisten, der deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg und der Amerikaner Richard Evan Schultes, gehen in zwei zeitlich differenten Zeiteben mit der Hilfe des selben Schamanen im südamerikanischen Dschungel auf die Suche nach einer seltenen und mythenumwobenen Heilpflanze.

»Schrotten!« (2016)

Das regionale Filmemachen wird beispielsweise mit »Lisbeths letzte Reise« vom Frankfurter Filmemacher Thomas Carlé vertreten sein. Für den Film hat er seine Eltern offen und schonunglos auf ihrer "letzten Reise" begleitet. Er zeigt sie beim Überschreiten der letzten, finalen Grenze eines jeden Menschen: dem Tod. Er ergründet diesen letzten Zeitraum und wie Menschen damit verschieden umgehen können. Ein gänzlich anderes regionales Projekt stellt »Kurzzeithelden« dar. Eine Entstehungszeit von 16 Jahren hat der Film von Christine Wagner hinter sich. Das fertige Werk, entstanden mit Hilfe von vielen Freunden und Bekannten, erzählt eine SciFi-Geschichte im Jahr 2025. Jede Sekunde lässt spüren, mit wie viel Liebe und Leidenschaft an den nun insgesamt 45 Minuten gearbeitet wurde. Ganz so auf sich gestellt war man dagegen bei der Produktion von »Schrotten!« nicht. Das Kinodebüt des für einen Kurzfilm-Oscar nominierten Filmemachers Max Zähle wurde vom Hessischen Rundfunk koproduziert und ist mit Lucas Gregorowicz und Frederick Lau auch namhaft besetzt. Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder, die den Schrottplatz des Vaters erben und sich zukünftig nicht nur mit einfachem Schrotten auseinander setzen müssen.

»Lotte«-Regisseur Julius Schultheiß. © Eva Maibaum

Ein weiterer deutscher Vertreter ist »Lotte«, der kürzlich seine Premiere auf der Berlinale feiern durfte. Karin Hanczewski spielt in dem Film von Julius Schultheiß - seines Zeichens Marburger und Absolvent der Kasseler Kunsthochschule - die junge titelgebende Figur, welche einfach so in den Tag hineinlebt und erst, als plötzlich ihre Tochter auftaucht, zum Handeln gezwungen wird. Hanczewski ist auch einem weiteren Festivalfilm zu sehen: »Im Sommer wohnt er unten«. Ein besonderes Higlight stellt auch die Preview von Gordian Mauggs »Fritz Lang« im Filmmuseum dar. Bereits zwei Wochen vor dem offiziellen Kinostart bietet sich so die Möglichkeit, die fiktive Vorgeschichte zu Fritz Langs Klassiker »M - Eine Stadt sucht ihren Mörder« im Kino zu sehen. Nicht zu vergessen die Vorführung von »Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht« in Anwesenheit von Regisseur Edgar Reitz. Das vierstündige Epos bildet den Abschluss von Reitz Heimat-Trilogie über eine Familie im Hunsrück.

Gänzlich anders verhält sich da die regionale Brücke zu Goran Radovanovićs »Enklave«. Der Film ermöglicht dem Publikum den Blick in das Krisengebiet des Kosovos durch die Augen eines Kindes. An der Realisierung von Serbiens Oscareinreichung für den besten fremdsprachigen Film war unter anderem die Hessische Filmförderung involviert, wodurch Teile der Postproduktion auch in Hessen in Auftrag gegeben wurden.

Das bunte und reichhaltige Programm wird des weiteren, neben den beliebten regionalen und internationalen Kurzfilmen, auch durch Vorträge und Talks ergänzt. So eröffnet beispielsweise die Diskussionsrunde "Europa: Außen.Grenzen.Innen." das Festival: Experten debattieren u.a. über Europa, seine Grenzen und seine Identitäten. Zudem dürfen sich Interessierte und Fans auf gleich drei Stummfilmvertonungen von regionalen Künstlern freuen.

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