Interview mit den Regisseuren Jean-Pierre und Luc Dardenne über ihren Film »Das unbekannte Mädchen«

"Ein guter Detektiv weiß, dass man der Zeit vertrauen muss"
»Jean-Pierre und Luc Dardenne«

»Jean-Pierre und Luc Dardenne«

Was war Ihr Ausgangspunkt für diesen Film? Die Figur der Ärztin?

Ja, diese Figur hat uns schon lange interessiert. In »Le Fils« sollte Olivier Gourmet eigentlich einen Arzt spielen, der absichtlich in ein anderes Viertel zieht, um den Mörder seines Sohnes beobachten zu können. Auch in »Der Junge auf dem Fahrrad« sollte die weibliche Hauptfigur zunächst eine Ärztin sein. Eine Ärztin rettet Leben, sie macht das Leiden ertragbarer – und hier fühlt sie sich mitverantwortlich für den Tod eines Menschen

Sie lassen den Fall des unbekannten Mädchens für die Ärztin zu einer lebensverändernden Erfahrung werden. Vorher hatte sie die Absicht, nach der zeitweiligen Vertretung des alteingesessenen Arztes eine (sehr wahrscheinlich besser bezahlte und mit weniger Stress verbundene) Stelle in einem Krankenhaus anzutreten.

Ja, sie hatte einen Karriereplan. Aber am Ende kehrt sie wieder dahin zurück, wo sie am Anfang war.

Der Film ließe sich auch als Kriminalfilm einordnen: Jenny stellt Ermittlungen an, bei denen sie bedroht und körperlich attackiert wird. Hat das dazu geführt, dass Sie sich überlegten, ob Sie dabei bestimmte Genreregeln berücksichtigen mussten?

Wir haben »Das unbekannte Mädchen« nie als einen reinen Genrefilm angesehen, wir könnten auch gar keinen Genrefilm drehen, weil wir nicht über die entsprechenden Techniken verfügen. Aber es stimmt, sie untersucht diesen Fall, allerdings als Ärztin – sie ist keine Frau, die mit Polizeimitteln arbeitet. Ihre Patienten entkleiden sich bei ihr, auch im metaphorischen Sinn, sie geben etwas über sich preis. Was Jenny schafft, ist, dass es den Patienten besser geht, wenn sie über sich reden. Das war auch der Grund, warum wir Adele Haenel für diese Rolle genommen haben, eine junge Schauspielerin, die selbst noch eine Suchende ist.

Sehen Sie eine Parallele zwischen Ihrer Arbeit als Ärztin und ihrer Ermittlungstätigkeit? Es geht ja in beiden Fällen darum, zu beobachten, zu untersuchen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Ein guter Detektiv weiß, dass man der Zeit vertrauen muss, dass man nichts überstürzen darf – auch eine Ärztin lässt die Zeit für sich arbeiten. Der einzige Unterschied ist der, dass sie an eine Schweigepflicht gebunden ist. Wenn sie sagt "Das bleibt unter uns", dann meint sie das auch – im Gegensatz zur Polizei. Ärzte, die auch Ermittler sind, gibt es in der Literatur eher wenige. Mir fällt da nur Giorgio Scerbanenco ein, der einen Protagonisten hatte, einen Privatdetektiv, der früher Arzt war

Nach Cecile de France und Marion Cotillard arbeiten Sie hier zum dritten Mal in Folge mit einer französischsprachigen Schauspielerin, die bereits einen Namen hat. Haben Sie den Eindruck, dass sich Ihre Arbeit dadurch verändert hat?

Nein, das ist nicht der Fall. Der einzige Unterschied ist der, dass es nach der Entscheidung für eine dieser Schauspielerinnen kein Casting mehr gab. Aber die Probenarbeit verläuft immer noch so wie früher. Die Profis haben dieselben Ängste wie die Laiendarsteller: ob sie es schaffen werden - aber natürlich schaffen sie das. Mit Laiendarstellern arbeiten wir übrigens nur in den Nebenrollen. Jeremie Renier und Olivier Gourmet, unsere beiden Stammschauspieler, die in diesem Film kurze Auftritte haben, hatten schon Erfahrung, als wir sie erstmals besetzt haben.

Gab es große Unterschiede zwischen den drei Schauspielerinnen? Wollten etwa manche von Ihnen mehr über ihre Figur erfahren?

An fundamentale Unterschiede können wir uns nicht erinnern. Wir erklären den Schauspielern nichts, die Antworten finden sie im Drehbuch. Wie sie sich dann ihre Rolle erarbeiten, bleibt ihnen selber überlassen. Wir haben nur gemerkt, dass wir mit Adele Haenel weniger Einstellungen gedreht haben – die hatte dabei eine gewisse Furchtlosigkeit, die wohl auch mit ihrem jungen Alter zusammenhängt.

Es gibt sicherlich auch Schauspieler, die sich erst warmspielen müssen und deshalb erst ab einem späteren Take richtig gut sind. Wie bringen Sie das zusammen mit Laiendarstellern, bei denen es darum geht, die Spontaneität ihrer Reaktion zu bewahren, die bei der mehrfachen Wiederholung einer Einstellung möglicherweise verloren gehen könnte?

Bei uns wird sehr viel geprobt, wir drehen manchmal auch sehr viele Einstellungen. Dabei geht es darum, Konzentration herzustellen, dass spürt man bei der Stimmung am Set, auch, wenn Takes nicht so gelungen sind. Wir haben auch schon Szenen bis zu fünfzig Mal gedreht.

Sie haben den Film nach der Premiere in Cannes leicht gekürzt. Ging es dabei um Szenen, die missverständlich waren? Oder um das Tempo?

Aus beiden Gründen: es gab eine Szene, die nicht funktionierte. Unsere Cutterin hat uns gesagt, wo wir wegen des Tempos schneiden könnten – das waren nicht unbedingt die Szenen, wo wir schneiden wollten. Daraufhin haben wir uns den ganzen Film noch einmal angesehen und dabei versucht, uns mehr in Jennys Kopf hineinzuversetzen. So ist der Film siebeneinhalb Minuten kürzer geworden.

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