Cannes 2016: Was hätte gewinnen sollen

Paul Verhoeven beim Dreh zu »Elle«

Paul Verhoeven beim Dreh zu »Elle«

Eine parteiische Nachlese

Wenn schon Altmeister, dann Paul Verhoeven

Anders als der nun zweifache Goldene-­Palme-Gewinner Ken Loach war der Nieder­länder Paul Verhoeven (mit knapp 78 nur zwei Jahre jünger als Loach) überhaupt erst zum zweiten Mal im Wettbewerb von Cannes vertreten. Das erste Mal dabei war Verhoeven 1992 mit »Basic Instinct«. Sein neuestes Werk, zugleich sein erster französischer Film, Elle, bildet zum Aufregerfilm von 1992 ein so vertracktes wie ironisches Gegenstück: Mit jugendlich anmutender ­Risikobereitschaft wagt Verhoeven eine kühne Mischung aus Thriller, Komödie und Vergewaltigungsdrama, worin Isabelle Huppert auf meisterhafte Weise ihre Markenzeichen Unnahbarkeit und Undurchschaubarkeit mit Sensibilität kombiniert. Am Ende des Festivals programmiert, auf einem Platz, auf dem Filme klassischerweise vor der Kritik »versteckt« werden, bildete »Elle« die große Schlussüberraschung: raffiniert, unbekümmert und an keiner Stelle vorhersehbar. Mit einem Ensemble, in dem Christian Berkel in einer Nebenrolle als tumb-dreister Liebhaber glänzt, stellt »Elle« außerdem das Paradebeispiel eines »Films für Erwachsene« dar, wie er in Hollywood gegenwärtig nicht mehr produziert wird.

Sonia Braga

Sie war die große Favoritin für Schauspielerinnenpreis: die Brasilianerin Sonia Braga mit ihrer selbstreflexiven Rolle im Film Aquarius. Braga, Jahrgang 1950, wurde in den 70er Jahren als das Sexsymbol ihrer Generation gefeiert, machte mit ihrer Rolle in »Der Kuss der Spinnenfrau« (1985) auch international auf sich aufmerksam und war einige Zeit mit Robert Redford liiert. In der zweiten Regiearbeit des einstigen Filmkritikers Kleber Mendonça Filho spielt sie eine verwitwete ehemalige Musikkritikerin, jung geblieben, aber auch einsam, die um ihr Apartment kämpfen muss, weil eine Im­mobilienfirma das Haus abreißen und dort neu bauen will. Fast die gesamten 142 Minuten des Films im Bild, fesselt Braga in jeder Sekunde davon mit Eigensinn, einer irritierenden Spur von Affektiertheit und großer Wärme.

Oder Jim Jarmusch?

Wenn darüber geklagt wird, dass Cannes immer dieselben Namen in den Wettbewerb bittet, gehört seiner eigentlich dazu: »Stranger Than Paradise« war 1984 Jarmuschs Cannes-Debüt im Programm der Quinzaine des réalisateurs. Von »Down by Law« (1986) bis »Paterson« in diesem Jahr trat er dann sieben Mal im Rennen um die Goldene Palme an. Für Broken Flowers (2005) gab es immerhin schon mal den Grandprix, die Silbermedaille des Festivals. Aber eigentlich gehört Jarmusch zu den großen Unterschätzten an der Croisette, und Paterson ging erneut leer aus. Dabei wäre allein schon Adam Drivers Auftritt preiswürdig gewesen: Er spielt mit all seiner schrägen Präzision den titelgebenden Busfahrer in der gleichnamigen Stadt als Echo auf den großen Dichter William Carlos Williams und dessen Werk »Paterson«. Wie oft bei Jarmusch kommt das Spiel mit einfallsreichen Alltagsszenerien, rituellen Wiederholungen und trockenen Dialogen zunächst fast allzu putzig daher. Aber bald wird daraus eine sehr ehrliche
Auseinandersetzung mit Kreativität und ihren Regeln und Vorbedingungen, mit einem launigen Hund als Agent des Zufalls und der Zerstörung. Der Hund immerhin wurde mit der Palm Dog ausgezeichnet, wenn auch postum. Er war kurz nach den Dreharbeiten verstorben.

Der Trend geht zur Komödie

»Toni Erdmann« mit seiner Mischung aus dramatischen und brüllend-komischen Szenen war ein Trendsetter: Selten wurde so viel gelacht in den Kinos an der Croisette wie in diesem Jahr. Alain Guiraudie, der mit seinem »Der Fremde am See« vor drei Jahren in Cannes den Durchbruch erlebte, konnte mit »Rester Vertical« zwar nicht an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen, aber seine launige Groteske über die französische Provinz trug auf angenehme Weise zum ungewohnt heiteren Grundton bei. Auch Bruno Dumont pflegte mit »Ma Loute« seine mit der Serie »P’tit Quinquin« neu entdeckte Komödienvorliebe. Fabrice Lucchini als buckliger Adliger, Juliette Binoche als seine alles übertreibende Frau und Didier Després als fettleibiger Kommissar, der die Dünen lieber herunterrollt als -schreitet, traf zwar nicht jedermanns Humor, unterlief aber hübsch ironisch den sonst üblichen biederen Ernst der Wettbewerbsfilme. Zusammen mit ­»Elle«, »Paterson« und »Toni Erdmann« zeigten die Filme von Dumont und Guiraudie, wie viel intensiver ein Drama werden kann, wenn die Erschütterung des Lachens dazukommt.

Zwei Perlen

In Cannes treten nicht nur Filme gegen­einander an, sondern auch ganze Sektionen. Vor allem die Semaine de la critique macht in den letzten Jahren dem offiziellen Programm die Neuentdeckungen streitig. Der Sektionssieger in diesem Jahr, der türkische Film »Albüm«, ist dafür das beste Beispiel. Da will ein biederes Paar ein Kind adoptieren, es aber für ihre gesamte Umgebung so aussehen lassen, als sei es das eigene. Also müssen Schwangerschaft und Geburt sorgfältig gefälscht und per Fotoroman dokumentiert werden. In ­distanzierten, wie gleichgültigen Einstellungen arbeitet Regiedebütant Mehmet Can Mertoglu beispielhaft die Oberflächlichkeit, Beschränktheit und Kleingeistigkeit der türkischen Mittelklasse heraus. Und steigert die Absurdität dann soweit, dass doch noch die Tragik des Paares zum Vorschein kommt, beide gefangen in Vorstellungen und Ansprüchen, die noch nicht mal ihre eigenen sind.

Die Quinzaine des réalisateurs dagegen gestaltet sich in den letzten Jahren zunehmend zur Leistungsschau derer, deren Entdeckung schon länger zurück liegt. In diesem Jahr waren gestandene Altmeister wie Paul Schrader (Dog Eat Dog), Marco Bellocchio (Fai bei sogni), Paolo Virzi (La Pazza Gioia)und Alejandro Jodorowsky (Poesía Sin Fin) dabei. Den 39-jährigen Chilenen Pablo Larraín zu diesen Veteranen zu rechnen, scheint nicht ganz gerecht, dennoch hat er mit No hier 2012 bereits einen Preis gewonnen. Mit »Neruda« setzt Larraín nun nach Tony Manero, Post Mortem und »No« seine Beschäftigung mit chilenischer Geschichte fort und demontiert dabei das lahme Genre des Biopics. In seinem Film veranstaltet der kommunistische Dichter ein kauziges Katz- und Mausspiel mit dem chilenischen Geheimdienst, den hier Gael García Bernal als bildungsferner Prototyp verkörpert. Nicht dass der Dichter dabei immer die bessere Figur macht – am Ende wirft der Film mehr Fragen auf, als er beantwortet und macht neugierig auf eine verdrängte Phase chilenischer Geschichte.

Ein Film floppt: Sean Penns »The Last Face«

Es gab stehende Ovationen und gellende Buhrufe – aber kein Film fiel in so spektakulärer Weise durch wie Sean Penns »The Last Face«. Noch keine Minute des Films war vergangen, da wurde schon höhnisch gekichert. Schuld war der Eröffnungsschriftzug, der die »singulare Brutalität« der Bürgerkriege in Liberia und dem Sudan beklagte und diese dann verglich mit der Liebe zwischen »einem Mann« – und hier wurde die Leinwand kurz schwarz – »und einer Frau«. Es war diese Dopplung aus bedeutungsschwangerer Auftaktansage und pathetischer Schwarzblende, die für »The Last Face« dem gleichkam, was der Eisberg für die Titanic war. Ab da ging es mit Sean Penns fünften Spielfilm immer nur noch bergab. Die haarsträubende Ausgangssituation war vielleicht noch nicht mal das Schlimmste: Javier Bardem und Charlize Theron spielen zwei engagierte Ärzte, die sich im Horror afrikanischer Bürgerkriege kennen- und lieben lernen, aber nicht zusammenbleiben können, weil eben die Welt so schlimm ist. Übler war die hemmungslos narzisstische Inszenierung: Liebend treffen sich die Augen der Ärzte über dem Leib der Toten nach Kaiserschnitt­operation ohne Narkose im Dschungel, weil immerhin das Baby gerettet ist... Viele, die bei der Premiere mit im Kino waren, berichteten hinterher davon wie von einem Unfallhergang: geschockt und wie besessen von den »schlimmsten« Szenen, die sie denjenigen, die nicht dabei waren, wieder und wieder schildern mussten. Es war ein Flop, den man nicht verpasst haben wollte.

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