Cannes 2016: Der Raum, in dem es passiert

Die Jury entschied gegen alle vielversprechenden Tendenzen des an Höhen und Tiefen reichen Jahrgangs
Goldene Palme »I, Daniel Blake« von Ken Loach

Goldene Palme »I, Daniel Blake« von Ken Loach

69. Filmfestival von Cannes: Ein Festival kann aus kleinen Filmen große Werke machen, auch wenn die Jury, wie in diesem Jahr, mit der Vergabe der Goldenen Palme gründlich danebenliegt

Wenn es eine These gibt, die das 69. Filmfestival von Cannes einmal mehr herausstrich, dann die: Das Kino ist ein Raum. Ein öffentlicher Raum, mit einer Leinwand und einem Publikum davor. In Zeiten, in denen Bücher, Platten und Filme zunehmend ihre materielle Gestalt verlieren und zu »content« zusammengefasst werden, um einsam abgeschlossen unter Kopfhörern mit einem Screen in der Hand konsumiert zu werden, ist das keine banale Behauptung. Zumal auf einem Festival wie Cannes die Kinosäle immer voll sind. Was bedeutet, dass man Sitznachbarn hat, mithin Menschen, die reagieren und deren Reaktionen auf einen zurückwirken. Sei es, dass man gegen die Buhs des Vordermanns anklatscht oder vom Lachen der Nebensitzerin angesteckt wird. Ob Hits oder Flops, hier, in den vollen Kinos von Cannes, ist der Ort, an dem man spürt, wie sie zustande kommen. Ob ein Film sein Publikum in den Bann schlägt – oder in die Flucht. In diesem Jahr in Cannes gab es beides, die heftige Ablehnung genauso wie die heftige Zustimmung, und es gab alle Formen dazwischen. Allein schon dieser Reichtum machte den Jahrgang 2016 zu etwas ganz Besonderem.

Etwas ganz Besonderes war es auch, dass der herausragende Festivalhit, der Film, über den alles sprach und der bis zuletzt als haushoher Favorit für die Goldene Palme gehandelt wurde, der Film einer deutschen Regisseurin war. Maren Ades »Toni Erdmann« brach regelrecht Rekorde der Zustimmung: minutenlange stehende Ovation trotz des für seine unterkühlte Atmosphäre berüchtigten Nachmittagspremierentermins und die höchste Note der Kritikerwertungen in der Geschichte des Branchenmagazins »Screen«. Gleichzeitig war »Toni Erdmann« ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig ein Festival für einen Film sein kann, weil es ihm besagten Raum gibt, um seine Wirkung zu entfalten. Die Publikums- und die Kritikerreaktionen bestärkten sich gegenseitig und trugen zur Überwindung manch eingefahrener nationaler Geschmacksgrenze bei. Russen, Franzosen, Briten, Amerikaner – sie kamen in seltener Einigkeit zusammen. Was Maren Ades Film so nette Komplimente einbrachte wie »L'humeur allemand existe et il est ravageur« und »...the rarest of things: a nearly three hour long German arthouse comedy-drama that (almost) never drags«.

Deutlich wie nie wurde dann allerdings, dass die Jury eines Festivals nicht wirklich in einem Raum mit dem Publikum sitzt. Oder genauer: dass die Prominentenjurys wie die von Cannes oft ihren eigenen Raum bilden. Zwar gilt fast als Regel, dass der Liebling der Kritik nicht die Goldene Palme bekommt. Aber selten lag eine Jury so neben den Empfindungen des gesamten Publikums in Cannes wie in diesem Jahr die unter Mad Max-Regisseur George Miller.

So herrschte nach der Preisverleihung regelrecht Katerstimmung: Die elf Tage dieser 69. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes waren mit selten intensiven Höhen und Tiefen wie ein Rausch vergangen, den die Entscheidungen der Jury dann wie mit kalter Dusche abbrachen. Und das nicht nur, weil »Toni Erdmann« leer ausging (bzw. mit dem Fipresci-Preis Vorlieb nehmen musste), sondern weil die Jury aus George Miller, ­Donald Sutherland, Arnaud Desplechin, Mads ­Mikkelsen, László Nemes, Kirsten Dunst, Vanessa Paradis, Katayoon Shahabi und Valeria Golino mit ihren Auszeichnungen auch gegen alle vielversprechenden Ten­denzen entschied. Den im Vorfeld stets erhobenen Vorwürfen – Immer die alten Meis­ter! Immer dasselbe Arthouse! Immer nur Männer! – zum Trotz gewann erneut statt eines aufregenden Newcomers ein Altmeister, statt eines ästhetischen Wagnisses ein sozialrealistisches Drama, und statt endlich zum zweiten Mal einer Frau die Goldene Palme zuzugestehen, gingen die prestigereichen Hauptpreise wieder ausschließlich an Männer.

Dementsprechend gereizt verlief schon die Verleihungszeremonie: Der bekennende Linke Ken Loach musste sich die Goldene Palme ausgerechnet von dem für seine teils ultrakonservativen Ansichten bekannten Mel Gibson überreichen lassen. Gibson wiederum führte seinen Auftritt mit der Erinnerung ein, dass Cannes ein wichtiges Karrieresprungbrett darstelle, was kaum die richtige Überleitung war für die Vergabe der Palme an einen 79-Jährigen, der zum 16. Mal am Festival teilnahm, vor zehn Jahren bereits seine erste Goldene Palme gewonnen und vor zwei Jahren seinen Rückzug vom Filmemachen verkündet hatte. Zwar ist Ken Loach mit »I, Daniel Blake« wieder ein trotz Hang zum Sozialkitsch mitreißender Film gelungen – er erzählt von einem durch Krankheit arbeitslos gewordenen Mittfünfziger und seinem Kampf mit den Tücken des wenig kundenfreundlichen britischen Sozialsystems. Doch im Feld der vielen außergewöhnlichen Filme des diesjährigen Programms wirkte Loachs Auszeichnung wie ein falscher Rückzug aufs Altvertraute.

Klar an der Festivalstimmung vorbei ging auch der Grandprix an den Kanadier Xavier Dolan, der trotz seines jugendlichen Alters von 27 schon ein Cannes-Veteran ist und für sein Familiendrama »It's Only the End of the World« auch bereits seine zweite Wettbewerbsauszeichnung erhielt. Sein Film hatte das Publikum in Cannes klar gespalten und teilweise heftige Ablehnung provoziert. Ähnlich war es auch Olivier Assayas mit »Personal Shopper« ergangen: Trotz einer großartigen Kristen Stewart in der Hauptrolle wurde der Film ausgebuht. Assayas allerdings durfte sich den Regie-Preis mit dem hochgelobten Rumänen Cristian ­Mungiu (Bacalaureat) teilen. Abegeshen von den vielleicht überspitzten Festivalreaktionen: Sowohl Dolans hitziges Familiendrama als auch Assayas' kühne Geister- und Krimigeschichte und Mungius geduldige Sektion gesellschaftlicher Korruption bilden würdig das europäische Autorenkino ab; für alle drei aber gilt, dass sie schon aufregendere, innovativere Filme gedreht haben.

Völlig vorbei am Puls der Croisette in diesem Jahr bewegte sich die Vergabe des Jury-Preises, der gewissermaßen den Trostpreis des Festivals darstellt. Die Britin ­Andrea Arnold musste mit ihrem Roadmovie »American Honey« bereits zum dritten Mal damit Vorlieb nehmen, womit auch stellvertretend die Ambitionen der stets unterrepräsentierten Filmemacherinnen in Cannes auf ihren Platz verwiesen wurden.

Die Frauen kamen also ein weiteres Mal zu kurz, auch wenn der Darstellerinnenpreis mit der philippinischen Schauspielerin ­Jaclyn Jose eine außergewöhnliche und angenehm wenig dem Starlet-Ideal entsprechende Vertreterin fand. Jose spielte in Brillante Mendozas Film »Ma' Rosa« eine Familienmatriarchin, die in Drogengeschäfte verwickelt ist. Symptomatisch erscheint deshalb, dass der vormalige Berlinale-Gewinner und iranische Oscarkandidat Asghar Farhadi für seinen Film »The Salesman« gleich zwei Preise, den für den besten männlichen Darsteller und den fürs Drehbuch, gewann.

»The Salesman« nämlich erzählt das, was eigentlich eine Frauengeschichte ist, ganz aus der Sicht des Mannes: Ein Ehemann (Preisträger Shahab Hosseini) wird nicht damit fertig, dass seine Frau fast vergewaltigt worden wäre.

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