Dem Leben selbst einen Sinn geben

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»Liebe und Zufall«

Die Solothurner Filmtage feierten ihr 50. Jubiläum und warteten mit einem ansprechenden Programm auf

Nebelschwaden über der Aare, die Luft recht mild für den Monat Januar, es scheint alles beim Alten geblieben zu sein in Solothurn. Die barocke Kleinstadt als traumhaft schöne Kulisse für ein Kulturereignis, das 2015 circa 67.000  Besucher verzeichnen konnte.

Es war jene Kleinstadt im gleichnamigen Kanton in der Westschweiz, die Anfang der sechziger Jahre bereits über 1000 Mitglieder im Filmclub ihr eigen nannte. Die daraus entstehenden Filmtage waren von da an in Solothurn beheimatet, und 50 Jahre später kann man diese Entscheidung nur bejubeln. Fußläufig erreichbare Spielorte, ein Festivalzentrum direkt an der Aare - der Schweizer Film hat es sehr gut getroffen mit der Auswahl seines Präsentationsortes.

Im extra aufgelegten Jubiläumsfilmprogramm fanden sich bekannte Namen wie Erich Langjahr (»Ex Voto«) , Alain Tanner (»Charles mort ou vif«) , Fredi M. Murer (»Höhenfeuer«), Daniel Schmid (»Schatten der Engel«) Clemens Klopfenstein und weitere über die Landesgrenzen hinaus bekannte Namen der Schweizer Autorenfilmszene.

Ein schwer zu manövrierender Tanker sei das Festivalschiff "Solothurner Filmtage", sagte Ivo Kummer, der erfolgreiche frühere Leiter, der mittlerweile ins Bundesamt für Kultur aufgestiegen und dort für den Film verantwortlich ist. Er wurde 2012 von Seraina Rohrer abgelöst. Etwas weniger politisch als früher und thematisch mehr zur Mitte der Gesellschaft hin ausgerichtet erschien das diesjährige Festivalprogramm. Die noch junge Festivalleiterin scheint eher einen Hang zum Enzyklopädischen und zum Filmwissenschaftlichen als zum wirklich Kontroversen zu haben. Während Ivo Kummer an die klassische Narration glaubt und das Kino als Ort der Entschleunigung verteidigen will, sieht Rohrer die Verpflichtung, sich transmedialen Projekten zu öffnen.  Das neue, bei den diesjährigen Solothurner Filmtagen lancierte Online-Portal „CH-Film“ möchte der breiten Masse das Schweizer Filmschaffen näherbringen. Ein Recherchetool mit multiplen Suchfunktionen, auch eine Werbung für den Eidgenössischen Film. Ein Festival bald nur noch im Netz, wie ein Kollege spekulierte, ist jedoch nicht zu erwarten, die gut gelaunten, erwartungsfrohen Schlangen vor den Abendkassen sprechen eine andere Sprache.

Auf den Leinwänden dann eher schwere Kost, Existenzielles und Universelles, Leben und Tod. Private Beziehungen unter dem Damoklesschwert einer Krebsdiagnose, Aufopferung bei der Pflege von Angehörigen, Sterbehilfe als letzter Ausweg.  Inspiriert von Aufzeichnungen seiner Mutter, zeigt Fredi M. Murer in »Liebe und Zufall« ein überdurchschnittlich intelligentes und ziemlich begütertes älteres Ehepaar (Paul und Elise) beim alltäglichen Leben in einer grandios schönen Villa. Schwung erhält die Geschichte durch die künstlerischen Ambitionen und Begabungen des Dienstmädchens, welches nach einem erfolgreichen Casting von einem improvisierenden Off-Theater-Regisseur eine Rolle erhält. Zufällig entpuppt sich jener als der im frühen Alter von 16 Jahren zur Adoption freigegebene Sohn der alten Dame, was diese nur dadurch merkt, dass wiederum der Sohn des Theaterregisseurs, ein junger Tierarzt, ihrem Ex-Geliebten und somit seinem Großvater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Murer schrieb (mit Rolando Colla) ein boulevardesk wirkendes Drehbuch, in dem am Ende alle miteinander versöhnt sind . Der Tod kommt, weil er irgendwann kommen muss - und am intensivsten beeindruckt in Murers Film die Ausstattung. Der Rest plätschert wohltemperiert dahin und man ward gut unterhalten.

Paul Rinikers »Usfahrt Oerlike« gewann den Publikumspreis und überzeugte mit seiner guten Besetzung. Die Schweizer Volksschauspieler Jörg Schneider und Mathias Gnädiger geben das alte Freundespaar Hans und Willi, das füreinander einsteht bis zum bitteren Ende. Auch hier sind es nicht Eltern und Kinder, die zusammenhalten am Ende des Lebens, sondern die langjährige Beziehung des Freundespaares erweist sich als die tragfähige soziale Basis im Alter. Nichts aufrüttelndes, sondern leicht verdauliche Durchschnittskost für den Sonntagabend im Fernsehen.  

Stina Werenfels Film »Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« rettete die Ehre der schweizerischen filmischen Avantgarde im Spielfilmbereich. Mutig bis an die Grenzen gehend zeigt Werenfels die emotionalen Untiefen, in denen man zu verschwinden droht, wenn man sich sexuell und emotional fallen lässt. Werenfels schildert die Beziehung zwischen der behinderten Dora (Victoria Schulz) und dem nicht behinderten Peter (Lars Eidinger) -  das riecht erstmal nach Ausbeutung von Schwächeren. Dass es letztlich doch nicht so ist , damit bricht Werenfels ein Tabu und gesteht gleichzeitig behinderten Menschen und ihrer Sexualität ein Stück mehr Würde und Selbstbestimmung zu. Die Komplexität von Mütter-Töchter-Beziehungen, erwünschte und nicht erwünschte Schwangerschaften – Werenfels´ Themenspektrum ist reichhaltig und die Regisseurin bleibt immer psychologisch genau und treffend. Jenny Schily überzeugt als anfänglich liebevoll beschützende, zunehmend jedoch auch eifersüchtig-einengende Mutter. Urs Jucker als überraschend souveräner Vater wirkt wie ein filmischer Ruhepohl.

Karim Patwas »Driften« mit Max Hubacher und Sabine Timoteo in den Hauptrollen war ein weiterer Spielfilm, der sicher im Gedächtnis haften bleiben wird vom Solothurn-Jahrgang 2015. Hubacher spielt einen jungen Mann, der, wenn er emotional austickt, dies gerne am Steuer seines Autos tut, der damit einem Kind das Leben nimmt und sich dann, nach einem Gefängnisaufenthalt, der Mutter annähert, unter falschen Namen, um zu begreifen, was er getan hat, um mit seiner Schuld vertraut zu werden, und vielleicht damit auch Vergebung sucht. In der Zeichnung der männlichen Rollen immer präzise, hat der Film dort auch seine stärksten Momente, wenn die jungen Männer sich gegenseitig aufschaukeln, ihren fatalen Rausch auszuleben.

Das traditionell reichhaltige und thematisch vielfältige Dokumentarfilmschaffen der Schweiz formte auch in diesem Jahr den Rückhalt, die stabile Wirbelsäule des Festivals. Kleine Einbrüche seien verziehen, wenn die Qualität im großen Ganzen stimmt. »Carl Lutz – Der vergessene Held« von Daniel von Aarburg, »Dark Star – HR Gigers Wel« von Belinda Sallin und »Sleepless in New York« kann man als Highlights benennen.  Mit Carl Lutz wurde einem in Vergessenheit geratenen Schweizer Diplomaten ein filmisches Denkmal gesetzt, der während des Zweiten Weltkrieges in Ungarn Zehntausende Juden rettete. Eine private Lovestory, der Mut, sich den Umständen nicht auszuliefern, sondern sie aktiv umzuformen und das traurige Ende dieser großen Persönlichkeit verpackte Aarburg in einen spannenden Film mit viel Archivmaterial. HR Giger, dem international erfolgreichen Maler, Skulpteur und Designer setzte Belinda Sallin ein filmisches Denkmal. Ein alternder Künstler, eine Ausnahmepersönlichkeit, der für seine Kunst brannte und eine Regisseurin, die Giger sehr nahekam. Ein berührender Film über das Vergehen der Zeit in Umarmung mit der Kunst. Man muss seinem Leben selber einen Sinn geben, die in Solothurn gezeigten Dokumentarfilme helfen dabei, ihn zu finden.

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