Warum zerfallen Familien?

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Foto: Uberto Pasolini

Uberto Pasolini über seinen Film Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit

Mr. Pasolini, kam die Idee für diesen Film aus einer persönlichen Erfahrung?

Nein, es begann mit einem Zeitungsartikel, einem Interview mit einem Mann, der in London diese Tätigkeit ausübt. Ich hatte keine Ahnung davon, aber es ist offensichtlich, dass es das überall auf der Welt gibt. Danach habe ich diesen Mann getroffen und sechs oder sieben Monate mit ihm und seinem Kollegen verbracht, die diese Tätigkeit in Lewisham in Ost-London, einem ziemlich großen und armen Stadtteil, ausüben. Der Film begann als eine Sozialrecherche, in den letzten Jahren habe ich mehr und mehr Zeit damit verbracht, durch das Kino etwas über die Welt zu entdecken, von dem ich bisher nichts wusste. Vor fünf Jahre drehte ich einen Film in Sri Lanka über Migration, vor 15 Jahren entstand The Full Monty, in dem es um Arbeitslosigkeit ging – allesamt Realitäten, die weit entfernt sind von meiner eigenen privilegierten Lebensweise. Hier ging es darum: warum gibt es soviel Einsamkeit in der westlichen Welt, warum zerfallen Familien? Über das Leben von anderen nachzudenken führte auch dazu, dass ich über mein eigenes nachdachte. In den letzten fünf Jahren, seit meiner Scheidung, nach über dreißig Jahren des Zusammenlebens mit Frau und Kindern, kam ich jetzt nach Hause in ein leeres Haus. Das war für mich eine neue Erfahrung: dass ich das Licht in den dunklen Räumen einschalten muss, das Radio, um eine Geräuschkulisse zu haben und etwas koche, um den Geruch wahrzunehmen. Obwohl ich meine Kinder laufend sehe und befreundet bin mit meiner Ex-Frau, die die Musik für die meisten meiner Filme schreibt, spüre ich dese Veränderung sehr. So wurde der Film, der als Sozialrecherche begann, für mich zu etwas sehr Persönlichem.

Haben Sie bei der Recherche Menschen getroffen, die ähnlich waren wie Mr. May?

Insgesamt habe ich 35 Menschen getroffen, aber der eine von den beiden, mit denen ich viel Zeit verbrachte, hatte diese Qualitäten: für ihn waren die Toten Menschen - nicht Zahlen. Aber es gab auch einige Jüngere, die die Begräbnisse eher auf bürokratische Art angingen und sich nicht betroffen zeigten. Es gab viele Begräbnisse, bei denen ich neben dem Priester der einzige Anwesende war. Der Film handelt aber eigentlich nicht vom Tod, sondern vom Leben: wie viel Kontakt Du zu anderem Menschen hast.

Haben Sie die Hauptrolle schon mit Eddie Marsan im Kopf geschrieben?

Ja, vor zehn Jahren habe ich schon einmal mit ihm gearbeitet, bei The Emperor’s New Clothes. Ian Holm spielte Napoleon und Eddie Marsan seinen Kammerdiener. Er hatte nur einige kurze Szenen mit vielleicht sechs Dialogsätzen. Aber dabei schaffte er es, eine menschliche Figur zu erschaffen. Durch ihre Augen sah man den Kaiser, das machte auch diesen menschlich. Eddie spielte sehr verhalten – genau das wollte ich auch hier haben. Dies sollte ein ganz ruhiger Film werden…

Der im Original ja auch Still Life heißt…

Genau. Die Kamera bewegt sich kaum, gerade am Anfang bemühen wir uns um symmetrische Einstellungen, die Farben sind entfärbt, es gibt wenig Musik. Aber das Wichtigste war das Schauspiel. Gerade am Anfang gibt es wenig Dialog, man muss fühlen, ohne dass dies durch große Gesten vermittelt wird. Eddie demonstriert nie seine schauspielerischen Qualitäten, er stellt sich ganz in den Dienst der Szene. Er ist in Großbritannien ziemlich bekannt, aber eher für Nebenrollen. Ich war an seiner Fähigkeit interessiert, viel mit wenig auszusagen. In der Vorbereitung habe ich mir viele Filme von Ozu angeschaut, der mit sparsamsten Mitteln sehr Emotionales bewirken konnte. Unser Leben verläuft ja auch eher undramatisch, anders als auf der Leinwand.

Das Drehbuch schien mir sehr präzise konstruiert: Wenn man ihn das erste Mal bei seinem Abendessen sieht, wirkt das wie ein Spleen, beim nächsten Mal begreifen wir, dass das eine feste Gewohnheit ist, und wenn er den alten Soldaten im Heim besucht und dort dasselbe vorgesetzt bekommt, dann erfährt das eine komische Wendung.

Es ist das Essen, das alte Menschen in Heimen vorgesetzt bekommen. Er macht eine Reise und entdeckt andere Möglichkeiten. Mir war es wichtig, zu zeigen, dass er nicht einsam ist – er ist so selbstlos, dass er nicht an sein eigenes Leben denkt. Zum anderen war es auch wichtig dass er nicht über die Leute urteilt, die er zu Grabe trägt, und dass wir genauso wenig über sein Leben urteilen. Einer der Gründe, warum ich nicht wollte, dass er sein Leben zusammen mit dem Mädchen glücklich beschließt, war, dass das bedeutet hätte, sein ganzes vorheriges Leben war das falsche Leben und dies das Richtige. Sein erstes Leben ist so wertvoll wie jedes andere Leben, das er noch hätte haben können. Wir folgen ihm bei seiner Reise, die er auf den Spuren seines verstorbenen Nachbarn unternimmt, wir freuen uns mit ihm, wenn er am Meer sitzt oder seine erste heiße Schokolade genießt – aber das nimmt nichts von seinem früheren Leben weg. Er öffnet sich einfach, nicht auf dramatische Weise, sondern in ganz kleinen Schritten.

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