Interview mit Richard Linklater

Richard Linklater bei der Premiere von »Boyhood« 2014

»Der Film sollte sich anfühlen wie eine Erinnerung«

Mr. Linklater, wie oft befielen Sie in den vergangenen zwölf Jahren Zweifel, dass Sie Boyhood fertigstellen könnten?

Boyhood war so sehr in unsere Leben integriert, dass wir kaum Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken. Man kann so ein Projekt vielleicht am ehesten mit einer Langzeitbeziehung vergleichen. Wir alle hatten uns voll und ganz einer Sache verschrieben. Und wie in jeder Beziehung bekommst du nur das zurück, was du auch bereit bist einzubringen. Ich hatte in dieser Hinsicht großes Vertrauen in unser Team.

Aber es spielten viele Faktoren eine Rolle, die außerhalb Ihrer Kontrolle lagen.

Ja, Boyhood ist eine schöne Metapher für das Leben selbst. Wir können unsere eigenen Leben auch nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren.

Ein Glücksfall war die Wahl Ihres Hauptdarstellers Ellar Coltrane, der zu Beginn der Dreharbeiten sechs Jahre alt war. Glauben Sie, dass eine Art Wechselwirkung besteht zwischen dem jungen Mann, zu dem er heranwuchs, und der Rolle, die er im Film spielt?

Das ist im Nachhinein schwer zu sagen, aber er ist zweifellos in die Rolle eines ernsthaften, nachdenklichen jungen Mannes hi­neingewachsen. Fragen wie diese haben mich während der Arbeit an Boyhood immer wieder beschäftigt: Ist die Persönlichkeit eines Menschen genetisch veranlagt, und wie stark sind wir in unserer Persönlichkeitsentwicklung kulturell geprägt? Wie viel von Ellar steckt also in der Figur von Mason – und umgekehrt? Ich denke, beides ist schwer voneinander zu trennen. Ellars Eltern sind Künstler, er brachte also eine gewisse Prägung in das Projekt ein.

Ist die Fotografie ein Hobby von Ellar Coltrane? Oder war das eine Drehbucherfindung?

Fotografie ist eines von Ellars künstlerischen Betätigungsfeldern. Ich habe in ihm anfangs eher einen Musiker gesehen, aber sein Interesse an visuellen Künsten ist stärker ausgeprägt. Darum haben wir dieses Element für seine Rolle übernommen.

Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit Ihren Schauspielern an solch einem Langzeitprojekt vorstellen?

Es fühlt sich an, als würde man jedes Jahr einen neuen Film drehen. Wir mussten die Crew zusammentrommeln, Drehgenehmigungen einholen, Technik besorgen, proben, das Drehbuch gegebenenfalls umschreiben. Da uns das nötige Geld fehlte, hatten wir nie mehr als durchschnittlich drei Tage für die Dreharbeiten. Das Skript entstand im Laufe des Jahres. Unmittelbar nach Ende der Dreharbeiten schnitt unsere Cutterin Sandra Adair das neue Material. Jedes Jahr konnte ich mir also aufgrund des aktuellen Schnitts überlegen, wie die Geschichte weitergehen würde. Der Film gleicht einer Skulptur, die wir Jahr für Jahr ergänzten. Für mich als Filmemacher war das eine seltsame Erfahrung: dass ich mir die Zeit nehmen konnte, mich in die Geschichte hineinzufühlen. Normalerweise ähneln die Arbeitsabläufe in der Filmindustrie denen in einer Fabrik. Es gibt ein Skript, eine vorgegebene Anzahl von Drehtagen, und im Anschluss wird das Material verarbeitet. Bei Boyhood hatte ich dagegen zwischen den Drehs ein Jahr Zeit, mir zu überlegen, wie sich die Geschichte entwickeln könnte und wie sich die Beziehungen der Figuren verändern.

Wie stark brachten sich die Schauspieler in ihre Rollen ein?

In Maßen. Das Skript hatte zu Beginn der Dreharbeiten klare Vorgaben. Am Ende des Drehs konnte ich meinen Schauspielern meist schon erklären, was ich für ihre Figuren beim nächsten Mal vorgesehen hatte. Darüber tauschten wir uns im Laufe eines Jahres regelmäßig aus. Mit Ellar war es allerdings etwas anders. Je älter er wurde, desto partnerschaftlicher wurde unsere Zusammenarbeit. Ich wollte zum Beispiel nicht, dass der Film seine persönliche Entwicklung vorwegnimmt. Mason sollte keine Dinge tun, die Ellar selbst noch nicht erlebt hatte – etwa rauchen, trinken oder die erste Trennung.
 

Faszinierend an Boyhood ist, dass er trotz seiner langwierigen Entstehungsgeschichte sehr kohärent wirkt – erzählerisch, aber auch in technischer Hinsicht. In den letzten zwölf Jahren haben sich zum Beispiel Filmmaterial und Kameras rapide verändert. Dem fertigen Film ist diese Entwicklung nicht anzusehen.

Ich hatte von Beginn an gewusst, dass ich Boyhood auf Film drehen würde. Zum einen weil ich den Look der frühen Digitalkameras nicht mochte. Ich fand die Technologie noch nicht ausgereift, obwohl mir damals bewusst war, dass darin die Zukunft des Kinos liegen würde. Ich wollte aber auch nicht, dass die Ästhetik oder technische Hilfsmittel Hinweise auf den Verlauf der Zeit im Film lieferten. Die Geschichte sollte sich langsam entfalten, der Film sollte sich anfühlen wie eine Erinnerung. Wir haben Boyhood zwar in der Gegenwart gedreht, hatten am Ende aber einen historischen Film in der Hand. Die verstrichene Zeit sollte ausschließlich an visuellen Hinweisen im Film erkennbar sein: den Frisuren, der Musik oder gesellschaftlichen Themen wie der Obama-Wahl.
 

Boyhood ist nach der Before-Trilogie Ihr zweites Langzeitprojekt. Was interessiert sie als Filmemacher daran, den Verlauf der Zeit zu thematisieren?

Zeit ist eine charakteristische Beschaffenheit von Film. Die Art und Weise, wie die Zeit im Kino manipuliert werden kann, ist in der Kunst einmalig. Dieses Verhältnis von Zeit und Film wirkt auf die Arbeit eines Filmemachers ungemein befreiend. Nicht ohne Grund hat Tarkowski vom Filmemachen als dem »Formen von Zeit« gesprochen. Das Konzept »Zeit« birgt eine Menge erzählerisches Potenzial. Ich habe mein halbes Leben darüber nachgedacht, wie man Geschichten auf neue Arten erzählen könnte und welche Form angemessen wäre, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen.

Boyhood erzählt eine konventionelle Geschichte auf ungewöhnliche Weise. Dieses formale Interesse zeigten Sie schon in Slacker, wo sich die Kamera beim Flanieren an die Charaktere heftete.

Ich versuche mit meinen Filmen, den Rhythmus des Lebens zu imitieren. Die Form von Boyhood mag radikal erscheinen, aber die Erzählweise ahmt lediglich nach, wie sich unsere Leben entfalten oder unser Gehirn Informationen verarbeitet.
 

Ein Film, der in Deutschland leider komplett unterging, ist Bernie, in dem Sie die wahre Geschichte eines Hochstaplers als Mischung aus Spielhandlung und Interviews erzählen. Auch hier setzen Sie sich über Erzählkonventionen hinweg.

Bernie ist meine schwarze Komödie. Die Interviews im Film waren geschrieben, sie basieren aber auf Nachforschungen, die wir im Vorfeld bei Nachbarn und Freunden von Jack Blacks Charakter angestellt haben. Einige der Schauspieler, die wir für die Interviews besetzten, kannten Bernie noch persönlich, sie stammen größtenteils aus der Gegend von Texas, in der die Geschichte spielt.
 

Bernie hat einen starken Lokalbezug. Sie selbst leben noch immer in Austin, Texas. Wie groß ist Ihre regionale Verbundenheit?

Ich bin im östlichen Texas aufgewachsen, von daher habe ich eine große Sympathie für diese Gegend. Mit Bernie habe ich im Grunde meine Mutter und ihre Freundinnen porträtiert. Der Film ist eine Hommage an meine Leute.

Fällt Ihnen das Arbeiten in Austin leichter als in Los Angeles? Ist das der Grund, warum selbst in Ihren kommerzielleren Komödien wie School of Rock oder dem Remake Die Bären sind los noch eine persönliche Handschrift erkennbar ist?

Ich bin hier geboren, hier habe ich meine Wurzeln. Ich habe wahrscheinlich den Preis dafür gezahlt, dass ich mich für ein Leben als Außenseiter in der Filmindustrie entschieden habe. In Hollywood herrscht ein anderes Bewusstsein vor, es ist mir zu professionell, zu viel Business. Nicht dass aus Hollywood nur Mist käme, aber die Filmindustrie kann einen Regisseur ganz schön zermürben. Man muss gute Überlebensmechanismen entwickeln und ich habe einfach nicht die Konstitution dafür.
 

Sie haben, das wird in Boyhood wieder deutlich, ein seltenes Gespür für Kinder und Jugendliche. Wie arbeiten Sie mit jungen Darstellern, dass Sie ihnen immer wieder so natürliche Performances entlocken?
 

Ich glaube, das Geheimnis besteht schlichtweg darin, Kinder nicht anders als Erwachsene zu behandeln. Ich nehme sie ernst und ermutige sie, sich an der Entstehung des Films zu beteiligen. Und ich probe viel mit ihnen, so dass sie sich am Set wohlfühlen. Meine Art zu arbeiten entspricht wahrscheinlich eher dem Wesen von jungen Menschen. Bei vielen Filmen ist die Schauspielerei ein notwendiges Übel: Es gibt klare Anweisungen, die befolgt werden müssen. Meine Arbeitsweise ist organisch. Selbst wenn Darsteller vor der Kamera stehen, fühlt es sich nicht unbedingt wie eine Performance an.
 

Diese Beobachterposition nehmen auch viele Ihrer Filme ein. Die Kamera drängt sich nie auf.

Es gibt diese Sorte Film, wo es im Grunde egal ist, wer die Rolle spielt, weil die Idee hinter dem Film viel größer ist als die Darsteller. Ich sehe das genau andersherum. Ich suche nach Momenten, in denen sich die Schauspieler wiederfinden können. Was ich bei der Arbeit an einem Film am meisten mag, ist, mich mit meinen Schauspielern in einen Raum zurückzuziehen und mit ihnen über ihre Charaktere zu sprechen – über Tage, manchmal Wochen. Wenn die Worte in einem Drehbuch eine Beziehung mit den Menschen eingehen, entsteht für mich im Kino Magie.

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