Kritik zu Willkommen bei den Sch'tis

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Nun hat der Film den Rekord von »Titanic« doch nicht eingestellt, aber auch mit etwas weniger als 20,7 Millionen Zuschauern in Frankreich ist Dany Boons Komödie etwas Unvorhergesehenes gelungen: Sie hat die Provinz mit sich selbst versöhnt

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Der Verkehrspolizist versteht die Welt nicht mehr. An Raser ist er auf der Autoroute du Soleil, der Autobahn im französischen Süden, ja gewöhnt. Aber nie hat er es sonst mit Verkehrssündern zu tun, die das Mindesttempo unterschreiten. Aber als er vom harten Schicksal des Autofahrers erfährt, den er angehalten hat, ist sein Mitgefühl groß: Er war bisher Leiter des Postamtes in Salon-de-Provençe und ist nun in den Norden strafversetzt worden.

Aus provençalischer Sicht beginnt der Polarkreis gleich hinter der Loire, deshalb hat ihn seine Frau mit Winterjacke, Pelzmütze und Schneestiefeln ausstaffiert. Er kann sich nicht vorstellen, wie man leben kann, ohne je die Sonne zu sehen. »Bon courage!«, gibt der Polizist ihm mit auf den Weg; man weiß schließlich, wie rau die Sitten im Norden sind, wo die Einheimischen die Trostlosigkeit ihrer Existenz nur mit exzessivem Alkoholgenuss ertragen können. Und kaum hat Philippe Abrams (Kad Merad) die Region Nord-Pas de Calais erreicht, fängt es auch schon an, in Strömen zu regnen. Seine zukünftigen Kollegen (allen voran sein Assistent, gespielt vom Regisseur Dany Boon) sprechen nicht nur eine vollkommen unverständliche Sprache, sondern tatsächlich auch dem Alkohol reichlich zu; nicht nur wegen der Küche, die einem schwer im Magen liegt. Sein Vorgesetzter hatte recht, als er ihm eröffnete, ihn erwarte weit Schlimmeres als die Entlassung.

Boons Komödie folgt auf den ersten Blick der Fisch-auf-dem-Trockenen-Formel, die im Hollywoodkino in den achtziger Jahren ungemein populär wurde, weil sie den amerikanischen Zuschauern die großartige Vielgestaltigkeit ihres Landes vor Augen führte und sie der Gewissheit anvertraute, dass sich alle Gegensätze harmonisieren lassen, ohne dass man seine kulturelle Identität aufgeben muss. Auch in Frankreich funktioniert dieses Prinzip des Kulturschocks prächtig. Zumindest bis zum unfassbaren Erfolg von »Willkommen bei den Sch'tis« herrschte dort ein steiles Süd-Nord-Gefälle. Seit Emile Zolas »Germinal« assoziiert man den Norden mit der Misere der Bergwerksarbeiter und nach Schließung der Minen mit Sozialtristesse. Während Komödien gern im lichten Süden angesiedelt werden, scheint den meisten Filmemachern die Region an der belgischen Grenze nur als Schauplatz schwermütiger Dramen vorstellbar, beispielsweise der bleiern hoffnungslosen Filme von Bruno Dumont.

Boon, der selbst aus dem Norden stammt, gibt der Formel allerdings eine hübsche Wendung: Abrams fängt an, die rustikale, warmherzige Vereinnahmung durch die Nordlichter zu genießen, und gewöhnt sich alsbald an die fremden Sitten und den putzigen Dialekt, das »Ch'timi«. So kalt ist es im Übrigen gar nicht. Boon ersetzt eine negative durch eine positive Karikatur: Da Philippe vor seiner Frau den Eindruck eines Martyriums aufrechterhalten will (ihre Ehe lief nie besser), bauen seine großherzigen neuen Freunde ein Potemkin'sches Dorf sämtlicher Klischees der Trostlosigkeit auf, als sie zu Besuch kommt.

Der Regisseur weiß natürlich, dass sein Film seinerseits Potemkin'sche Dörfer errichtet. Das »Ch'timi« wird zwar von etwa zwei Millionen Einwohnern der Region verstanden, aber nur von wenigen Tausend tatsächlich noch gesprochen. (Die deutsche Synchronisation, die das Idiom in eine Fantasiesprache überträgt, setzt die Entwurzelung der Fiktion nurmehr fort.) Im Film fungiert der Dialekt als ein Element des sozialen Zusammenhalts. Sein Witz ist gutmütig, er verschafft Zutritt zu einer Welt der Eingeweihten und verwandelt den Spott in Affirmation. »Ein Fremder weint zweimal«, heißt es im berührendsten Dialogsatz des Films, »zuerst, wenn er in den Norden kommt, und dann, wenn er ihn verlässt.«

Während der Film bei seinem Start von den seriösen Feuilletons weitgehend ignoriert wurde – nur »Le Monde« brachte eine ausführliche, durchaus wohlwollende Besprechung –, avancierte er rasch zu einem jener kulturellen Phänomene, die es schlicht verantwortungslos erscheinen lassen, wenn man sich zu ihnen keine Meinung bildet. Nun hinge man den Erfolg gewiss etwas zu hoch, wollte man ihn als Plebiszit deuten gegen den Bling-Bling-Kapitalismus Sarkozys. Gleichwohl hat er eine Dimension erreicht, die es nahelegt, ihn als Soziogramm zu lesen. Ebenso wie Jean-Pierre Jeunets Montmartre-Märchen »Die fabelhafte Welt der Amélie« stellt er den Schrecknissen der Globalisierung ein moralisches Universum von überschaubarer Reichweite gegenüber. In ihm ist die Integration gelungen; es war eine kluge Besetzungsstrategie, die Hauptrolle dem in Algerien geborenen Merad anzuvertrauen.

Boon knüpft in einigen Nebenhandlungen an die Traditionen des ländlichen Schwanks an. Indem er allerdings gleich zu Anfang eine interessante geografische und dramaturgische Bewegung vollzieht, schert er dankenswert aus vertrauten Schemata aus: Abrams reist aus einer gründlich folklorisierten Region, der Provence, in eine andere, ungeliebte. Er ist kein Großstädter, der zu rustikaler Besinnlichkeit bekehrt und von der Unverbindlichkeit seiner urbanen Existenz erlöst werden muss.

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